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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 526

Text

TOLSTOI: ACTE DER SELBST-OPFERUNG.

Stück Brot gegessen. Im Herbste regnet
es oder es schneit — man klopft bei
ihnen. Dürfen sie — nicht öffnen? Es
tritt ein Durchnässter, in Schweiss Ge-
badeter ein. Was thun? Soll man ihn
auf das trockene Stroh lassen? Aber es
ist ja kein trockenes Stroh mehr da!
Folgendes muss nun also geschehen:
entweder man jagt den Kranken fort oder
man lässt ihn durchnässt auf dem Boden
hocken oder man gibt ihm den eigenen
Strohsack und schläft mit ihm zusammen.

Aber dies wäre nur Geringes.

Ein Mann kommt. Du weisst, dass
er ein Trunkenbold, eine Canaille ist.
Schon mehrmals bist Du ihm zu Hilfe ge-
kommen — und stets hat er Das ver-
trunken, was Du ihm gegeben hast. Er
ist da und mit zitternder Stimme verlangt
er drei Rubel von Dir; er hat diesen
Betrag gestohlen, verprasst, und wenn er
ihn nicht zurückgibt, wird er ins Gefäng-
nis geschleppt. Du sagst ihm, dass Du
nur vier Rubel hast und dass Du sie
morgen für eine nothwendige Zahlung
brauchen wirst. Hierauf antwortet Dir der
Elende: »Leere Worte wie alles! Wenn’s
zu handeln gilt, bist Du wie alle Anderen;
ob Der zugrunde geht, den Ihr Eueren
Bruder nennt, was kümmert’s Euch?«

Wie nun vorgehen? Was thun? Den
Kranken auf den feuchten Boden setzen
und sich selber auf das trockene Stroh
legen — oder lieber nicht schlafen, ihn
auf den Strohsack legen, mit ihm ruhen
und von Ungeziefer gemartert, von Typhus
angesteckt werden? Drei Rubel dem Bettler
geben — das heisst: morgen ohne Brot
bleiben. Sie ihm abschlagen heisst: die
Pflicht verleugnen, für die man lebt.
Wenn man aber hier stehen bleiben kann,
warum bleibt man dann nicht schon viel
früher stehen? Warum ist man überhaupt
den Armen zu Hilfe gekommen? Wozu
hat man sein Geld hergegeben, die Stadt
verlassen? Wo ist da die Grenze? Wenn
man in dem begonnenen Werke eine
Grenze annimmt, so ist das nichts als
erbärmliche Heuchelei.

Was also thun? Was thun? Nicht
Halt machen in seiner Freigebigkeit heisst:
sein Leben zugrunde richten, an Ungeziefer
leiden, verkümmern, sterben — und zwar
für gar nichts, wie es scheint. Halt machen

heisst: all das Gute, das man bis dahin
gethan, widerrufen, zunichte machen. Und
es ist übrigens unmöglich, dem Wohlthun
zu entsagen, denn weder mir noch selbst
dem Heiland ist die Erfindung zu danken,
dass wir Brüder sind und als solche die
Verpflichtung haben, uns gegenseitig zu
unterstützen; es ist unmöglich, diese Auf-
fassung aus dem Herzen des Menschen
zu reissen, wenn sie darin einmal geboren
worden. Was ist also zu machen? Gibt
es gar keine Lösung?

Nehmen wir an, dass diese Menschen
— nicht zurückgeschreckt durch die fatale
Situation, in die sie die Pflicht der Auf-
opferung getrieben — zu der Überzeugung
gelangt sind, dass diese Lage in der Un-
zulänglichkeit der verfügbaren Mittel ihren
Grund habe, und dass sie mit grossen
Geldbeträgen dem Volke viel grösseren
Nutzen gestiftet hätten. Nehmen wir ferner
an, dass diese Menschen allmählich die
Mittel und Wege gefunden haben, sich
enorme Summen zu schaffen, und nun
damit beginnen, ihren Mitmenschen zu
helfen. Nach einigen Wochen wird ihre
Situation die nämliche sein; denn kurze
Zeit später wird das ganze Geld in den
Löchern verschwunden sein, die das Elend
gerissen.

Vielleicht aber gibt es eine andere
Lösung? Manche sagen, dass sie existiere
und dass sie in der Aufgabe bestehe, die
Intelligenz der Menschen heranzuzüchten
und ihre intellectuelle Ungleichheit zu be-
seitigen. Aber diese Lösung ist offenbar
ein Trugspiel. Man kann ein Volk nicht
belehren, das in jedem Augenblicke vom
Hungertode bedroht ist. Die Verlogenheit
der Leute, die dieses Rettungsmittel gut-
heissen und propagieren, liegt offen zu
tage: wer dazu beizutragen bemüht ist,
die Gleichheit herzustellen — sei es durch
die Wissenschaft oder anderswie — kann
unmöglich sein ganzes Leben lang diese
Ungleichheit ertragen.

Aber es gibt noch eine vierte Lösung:
man vertilge die Ursachen, die diese Un-
gleichheit erzeugen; man zerstöre die
Quelle dieser Ungleichheit: die Gewalt.
Und diese Lösung muss sich fatalerweise
gerade jenen redlichen Menschen auf-
drängen, die den Versuch machen, ihren
Glauben an die Verbrüderung der Men-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 526, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0526.html)