Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 531

Indische Renaissance (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 531

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SCHMITT: INDISCHE RENAISSANCE.

denkendes Sich-Versenken in die sinnlichen
Einzelgestalten der Natur möglich. Auf
der Basis hellenischer und dann christ-
licher Weltanschauung bildeten sich die
Keime der Naturwissenschaft. Der
Orient konnte daher nur auf dem Wege
intuitiver Anschauung, nicht auf dem
empirischer Forschung, zu einer oft be-
wundernswerten Erkenntnis von Grund-
wahrheiten des Natur-Erkennens kommen,
wie z. B. die Erkenntnis des Ur-Elementes
des Akasa, aus dem alle Elemente hervor-
gehen. Während dem Westen schliesslich
mit der Auflösung seiner phantastisch
individualisierten mythischen Götterge-
stalten der Sinn für das Universale, für
die lebendige All-Anschauung des Göttlichen
zu schwinden schien im materialistischen
Verfall seiner Cultur, konnte allein die
lebendige All-Anschauung des Ostens, und
hier in erster Linie des höchststehenden
Ostens, des arischen Indiens, den Impuls
geben zu einer, nothwendig auf idea-
listischen Grundanschauungen beruhenden,
neuen Culturgestaltung.

Es ist so das Endziel dieses culturellen
Keimungsprocesses auch nicht, wie die
Anhänger der indischen Theosophie meinen,
der endgiltige Sieg der Universal-Anschau-
ungen Indiens über die nach festen, natur-
wissenschaftlich fassbaren Umrissen stre-
bende Anschauungsweise des Westens,
sondern eine neue höhere Form der Welt-
betrachtung, in der die All-Anschauung
Indiens plastische, gewissermassen sinnlich
fassbare Gestalt gewinnt, und andererseits
die Individualität des Menschengeistes in
ihrer ursprünglichen All-Natur, in ihrer
kosmischen Wesenheit, als Function nicht
eines blossen Staubklumpens, wie die
Materialisten meinen, oder einer phantom-
artigen Seele, wie die Spiritualisten, son-
dern als ureigene Function des Kosmos,
des All-Lebens, zur Geltung kommt.

Der Buddhismus vermochte das Indi-
viduelle nur als Sinnlich-Endliches und
damit als Erbärmliches, Gebrechliches zu
fassen; daher sind seine heiligen Bücher
voll mit Beschreibungen des Elends der
sinnlich-leiblichen Existenz, und ebendaher
ist sein Endziel die Auflösung im Ocean
einer leblosen, individualitätslosen All-Ein-
heit, im Nirwana, deren Anschauung als
Zustand der höchsten Seligkeit gilt. Der
Buddhismus, eben weil ihm die Indivi-
dualität bloss als Endlich-Sinnliches gilt,
kennt keinen wesentlichen Unterschied
zwischen Mensch und Thier, und seine
Theilnahme am Menschenlos ist daher
auch nur die Theilnahme mit der gebrech-
lichen, thierischen Existenz. Der Buddhis-
mus ist so die Religion des Mitleids.

Die Reaction des Individualismus des
Westens gegen die formlose Auflösung der
Individualität in der orientalischen All-
Anschauung ist zugleich ein gewaltiges
Ringen nach dem idealen Ziel der nun heran-
dämmernden höheren Weltanschauung,
nach dem lichtvollen Erkennen der All-
Natur und des All-Seins der ureigenen
Individualität des Geistes. Die Indivi-
dualität erscheint so als ureigener, alle
Wesen erfüllender und durchdringender
Himmelsstrahl; jeder Menschengeist als
ureigenes Schwingen und Vibrieren des
einen, allverbindenden, göttlichen Lebens
der Liebe. Dieser Gedanke verschmilzt
die All-Anschauung Indiens mit dem
Individualismus des Westens, und nur
im milden und hohen Lichte dieses leben-
digen Gottgedankens, der da aufkeimen
soll in jedem Menschen, wird sich eine
Welt bisher ungeahnten Erkennens, hoheits-
voller und milder Lebensgestaltung — das
verheissene Friedensreich des Jesaias —
der sehnenden Menschheit eröffnen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 531, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0531.html)