Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 532

Alexandrinismus (Schlaf, Johannes)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 532

Text

ALEXANDRINISMUS.
Von JOHANNES SCHLAF (Magdeburg).

Wir sind neuerdings in eine Zeit der
geschmackvollen Bücherausstattungen ge-
kommen. Die Luxus-Ausgaben auf hollän-
dischem Bütten- und japanischem Papier
sind an der Tagesordnung. Man liebt
altmodische Drucktypen; Zeichnungen,
Initialen und Vignetten in allen nur er-
denklichen Stilarten zieren Text und Um-
schlag; man kann ohne alles dies schon
fast gar nicht mehr auskommen.

Wir wollen es gewiss nicht tadeln;
demnach aber scheint es bereits in diesen
und jenen Ausartungen eine gewisse ar-
chaistische Spielerei zu verrathen, die in
anderen Erscheinungen freilich weit be-
denklicher zu Tage tritt.

Eine dieser Erscheinungen ist die kürz-
lich aufgekommene Mode, den Text eines
Gedichtes um eine Mittelaxe herum zu
ordnen, bei der leider gerade Dichter
von der Bedeutung eines Richard Dehmel
und Arno Holz tonangebend sind.

Das macht sich so gefällig und über-
sichtlich. Das Gedicht spricht uns gleich
auf den ersten Blick an; reizt zur Lecture.
Es verräth sogleich eine ganze Anzahl seiner
Intimitäten. Es spricht, singt, übt beinahe
unmittelbare Klangwirkungen, zeichnet, malt
Bilder. Man thue nur einen Blick in die
beiden Hefte »Phantasus« von Arno Holz,
die oft mehr wie ein Bilderbuch oder eine
Notenschrift wirken als wie eine Gedicht-
sammlung. Es macht sich das recht nett
und — pikant; es macht sich ein wenig
wie — Alexandrinismus.

Auch diese Mode möchte nun aber
hingehen, wenn sie nicht ihre bedenklichere
Seite hätte.

Zwar, man wird sie ja als eine Con-
sequenz der poetischen Formentwicklung
hinstellen und rechtfertigen wollen. Aber
diese Consequenz scheint hier doch wohl
schon an einem Punkte angelangt, wo die
organische Notwendigkeit der äusseren
poetischen Form aufhört, und die will-

kürlich künstelnde Spielerei im Begriffe ist,
einzusetzen.

Rhythmus, Melos, Reim, aus Tanz,
Gesang und Mimik sich entwickelnd, auch
wohl aus der Sorge, einen wichtigen Inhalt
durch äussere Mittel mündlicher Über-
lieferung möglichst fest dem Gedächtnis
von Mit- und Nachwelt einzuprägen, haben
ihre natürliche und organische Nothwendig-
heit; sie sind geheiligt wie Alles, was
aus der Noth geboren, und welche Be-
thätigung menschlichen Geistes wäre nicht
aus der Noth geboren! — Es hatte nicht
minder seine geheiligte Berechtigung,
dass diese äusseren Formen aus ihrer
ersten primitiven Nothwendigkeit durch die
weitere Entwicklung zur Schönheit ge-
steigert und weitergebildet wurden, zu
einer Schönheit, die im harmonischen
Gleichmass eines nothwendigen und ge-
heiligten Inhaltes mit dem freieren Spiel
der äusseren Form bestand. Die orphischen
Dithyramben der Griechen, noch innig
verknüpft mit dem religiösen Cult, waren
jenes erste primitive Stadium, die Hymnen
des Pindar, die Lieder der Sappho und
des Anakreon, die Tragödien und Komö-
dien der grossen attischen Dichter kenn-
zeichnen jenes zweite, freiere Gipfel-
stadium harmonischer Schönheit. Nun aber
verlor jener alte, aus mythischen, religiösen
und geschichtlich-socialen Elementen ge-
borene Inhalt seine culturwirkende Kraft;
ein Stadium trat ein, wo die ethische,
religiöse, historische und welche Kritik
immer jenen Inhalt zersetzte und ihm sein
geheiligtes Pathos nahm, und mit diesem
Stadium trat der Verfall, wie der socialen
Institutionen des Griechenthums überhaupt,
so auch der der Kunst, ein. Ein blasiertes
Zeitalter benützte jenen alten Inhalt zu
allen möglichen Spielereien, die entweder
archaistisch die Naivetät jenes alten In-
haltes copierten, oder ihn ironisierten, oder
ihn zum Untergrund aller möglichen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 532, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0532.html)