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irgend einer Einzelheit an uns werden,
zum Beispiel unserer »Gastfreundschaft«,
wie es die Gefahr der Gefahren bei hoch-
gearteten und reichen Seelen ist, welche
verschwenderisch, fast gleichgiltig mit sich
selbst umgehen und die Tugend der Libera-
lität bis zum Laster treiben. Man muss
wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe
der Unabhängigkeit.«
Man muss sein Ich bis an die
äusserste Grenze bewahren und dann
diese äusserste Grenze durchbrechen; dies
ist eine schmerzliche Moral, nicht der
Loslösung halber, die sie befiehlt, sondern
schmerzlich durch den Zwang, nur in sich
das Lebensprincip zu suchen, das in dem
Wohlwollen Anderer demüthigst zu erbetteln
uns gelehrt wurde. Es ist schwerer, ein
»Mensch« zu sein, als den Königsberger
Katechismus auswendig zu lernen. Nachher
verliert die Frage, ob der Geier (oder
Adler) des Prometheus fett oder mager,
wohlgefiedert oder gerupft ist, die Frage,
ob der Adler, ich meine nämlich unser
Gewissen, gut gefrühstückt hat — diese
hauptsächlichste Frage verliert viel von ihrer
Bedeutung. Es gibt nicht mehr zwei deutlich
unterschiedene und miteinander mehr oder
weniger zufriedene Wesen, Prometheus und
sein Geier; es gibt nur mehr ein einziges,
und der Dialog ist unmöglich. — —
Aber solche Betrachtungen sind in einem
»Pariser Brief« wohl zu strenge und nicht
angebracht. Es gibt wirklich ein so viel-
fältiges, von einander so verschiedenes
Paris, obgleich es durchwegs zusammen-
hängt! Man muss es, glaube ich, in seiner
ganzen Mannigfaltigkeit kennen und an
allen Existenzen theilnehmen, wenn man
Lust hat, ins Weite zu schweifen. Wenn
man aus der so eintönigen und dahin-
dämmernden Provinz zurückkehrt, ver-
ursacht Einem die Vielfältigkeit von Paris
ein wenig Fieber. Ich habe im letzten
September auf dem Lande die Freude erlebt,
die Zeitungen nicht mehr zu verstehen, so
dass ich sie kaum durchblätterte. Die
Neuigkeiten von tiefstem Ernst nahmen
unter den Bäumen der Normandie ein
gleichsam historisches Gewand an; all diese
Dinge giengen vor einigen Jahrhunderten
vor sich. — — — Der menschliche Ge-
danke ist ein Product der Städte; das Land
macht die Intelligenz erstarren und ent-
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wickelt die Instincte. In Einsamkeit und
Müssiggang steigen die Leidenschaften bis
zu dramatischer Höhe. Man kann sich
gar nicht den hohen Grad seelischen Lebens
vorstellen, den jene Geschöpfe erreichen
können, für welche die Liebe die einzige
Pforte ist, durch welche sie sich selbst
entwischen können. Es scheint mir, dass
jede wahre Tragödie sich nothwendiger-
weise in einem alten, einsamen, von den
Wegen weit abgelegenen Schlosse, am
Ende langer, düsterer Alleen abspielen sollte.
Man schreibt keine Romane mehr über die
Provinz; und doch ist sie das eigentlich
romantische Land, weil sie von den Frauen
beherrscht wird, und die Provinzfrauen die
Romane erleben, die sie nicht lesen; und
sie lesen gar nichts. — —
Ohne direct im Verfall begriffen zu
sein, ist die französische Provinz in Ver-
wirrung. Sie hat die neuen Sitten an-
genommen, ohne die alten zu verbannen.
Die Familie ist in der Provinz noch sehr
stark, aber mehr dank der Vorurtheile
als dem Familiensinn. Es herrscht ein
Streben nach Freiheit und Zertheilung.
Der Einfluss des Clerus schwindet rasch;
viele noch sehr gläubige und die Religion
ehrende Leute verachten die Geistlichen
ihrer Mittelmässigkeit und Derbheit halber.
All Das und einige andere politische oder
sociale Gründe erzeugen ein sonderbares
Missbehagen, eine eigene Nervosität. Die
Provinz lebt in Furcht und Misstrauen;
sie schweigt und zittert; sie ist sich ihres
Mangels an Gleichgewicht, ihres Ersterbens
und ihrer Ohnmacht bewusst.
Ich möchte nicht den Schein erwecken,
den Satz erfunden zu haben, der da sagt:
Paris hat Frankreich aufgezehrt; die Be-
merkung ist nicht neu, aber ich habe nur
festgestellt, dass sie richtig ist. Wenn Herr
Barrès den zweiten Theil seiner »Déracinés«
(Die Entwurzelten) veröffentlichen wird,
wird man auf die übrigens für die ganze
Welt wichtige Frage zurückkommen:
Warum haben die Menschen auf einer
gewissen Stufe der Civilisation das Be-
streben, sich in einigen grossen Städten
zu vereinigen? Warum lösen sie sich mit
soviel Leichtigkeit, soviel Freude vom
heimatlichen Boden? Es ist wenig wahr-
scheinlich, dass der Grund, den Herr
Barrès angegeben hat, der richtige ist
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