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Ich glaube, dass die französische
Literatur von Nietzsche gut beeinflusst
werden wird; ich hoffe, sie wird von
ihm lernen, dass es zum Beispiel in der
Moral eine Menge Fragen gibt, die ein
vernünftiger Mensch nach dem alten Sinn
weder stellen, noch zu lösen versuchen
kann. Wenn man es wieder versucht,
die Prometheus-Legende zu erklären oder
zu entstellen, so wird man nicht mehr
im Geier, der ihm die Leber zernagt, das
Symbol des sittlichen Gewissens sehen.
Ich glaube, dass das kleine Buch von
André Gide »Der schlecht gefesselte
Prometheus« (Le Prométhée mal enchaîné,
Mercure de France, 1899) der letzte Ver-
such dieser Art sein wird, den wir zu
lesen bekommen. André Gide hat durch
Absonderlichkeiten dieses alte Thema
wieder zu beleben und das Schwunglose
seiner Gedanken unter der bizarren Form
zu verbergen gesucht. Demjenigen, der
die Tendenzen Herrn Gides, eines ein-
gefleischten Protestanten, nicht kennen
würde, erschiene diese kleine moralische
Erzählung vielmehr wie das Libretto einer
komischen Oper. Zuerst ist man ver-
sucht, die Musik Offenbachs zu vermissen,
doch ist die Geschichte so langweilig und
durch gewöhnliche, geschmacklose Alle-
gorien so plump gemacht, dass man bald
den Wunsch aufgibt, im Variété bei über-
schwenglichen Weisen das »Rondo des
sittlichen Gewissens« zu hören. Es möge
genügen, wenn ich mittheile, dass die
Personen der Geschichte Prometheus,
Damokles, Cokles und Zeus sind, und die
Haupthandlung in einem Boulevard-Kaffee-
haus spielt! Was an der Sache, und
nicht an der Geschichte, das Verblüffendste
scheint, das ist der Umstand, dass A. Gide
ein sehr talentierter Schriftsteller ist und
zu jenen Leuten gehört, in welche die
französische Literatur berechtigte Hoffnun-
gen setzt. Er hat auf einen kleinen
Theil der Jugend Einfluss gehabt; er hat
in einige lenkbare Gemüther den Keim
zu einem naiven Naturcultus gelegt.
Seine sanften, beruhigenden, tugendhaften
und von moralischen Winken triefenden
Werke haben nicht ganz das gehalten,
was seine ersten Bewunderer erwarteten;
aber bis zu jenem unglückseligen »Prome-
theus« hatte sie nichts abgestossen oder
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entmuthigt. Herr Gide wird uns noch
auf verschiedene Art überraschen, denn
er ist eine lebhafte, den Neuerungen
unterworfene Natur, und er wird noch
ganz abscheuliche Dinge schreiben, wie
alle originellen Köpfe, die einer bösen
geistigen Versuchung nicht widerstehen
können. Ah! Und um wie viel lieber
sind sie mir doch als jene, die immer
sehr »brave« Bücher machen, Bücher, in
denen man nichts tadeln und nichts loben
kann. Wenn ich wollte, könnte ich aus
dem »Schlechtgefesselten Prometheus«
einige köstliche Betrachtungen und so
manche sehr annehmbare Stelle citieren;
dieses kleine absonderliche Buch konnte
schliesslich nur von einem Autor ge-
schrieben werden, der genug intelligent
ist, um auch seine thörichten Stunden zu
haben.
Ist die alte Moral so tief gesunken,
dass man ihr, um sie nicht unbemerkt
vorübergehen zu lassen, Faschings-Tand
anlegen muss? Vielleicht ist dem so.
Selbst die theuersten Freunde dieser guten
Dame spüren, dass die Aufmerksamkeit
des Publicums durch das Erscheinen einer
neuen, ganz jungen und frischen Moral,
der individualistischen, gefesselt ist. Sich
selbst muss man gefallen und nicht der
menschlichen Herde. Man möge das
Capitel Nietzsches über die Loslösung
lesen und immer wieder lesen: »Nicht an
einer Person hängen bleiben, und sei sie
die geliebteste, — jede Person ist ein
Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an
einem Vaterlande hängen bleiben, und sei
es das leidendste und hilfsbedürftigste —
es ist schon weniger schwer, sein Herz
von einem siegreichen Vaterlande loszu-
binden. Nicht an einem Mitleiden hängen
bleiben; und gälte es höheren Menschen,
in deren seltene Marter und Hilflosigkeit
uns ein Zufall hat blicken lassen. Nicht
an einer Wissenschaft hängen bleiben,
und locke sie Einen mit den kostbarsten,
anscheinend gerade uns aufgesparten
Funden. Nicht an seiner eigenen Loslösung
hängen bleiben, an jener wohllüstigen Ferne
und Fremde des Vogels, der immer weiter
in die Höhe flieht, um immer mehr
unter sich zu sehen: die Gefahr des Flie-
genden. Nicht an unseren eigenen Tugenden
hängen bleiben und als Ganzes das Opfer
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