Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 572

Pariser Brief Tönendes Schweigen (Gourmont, Remy deZillmann, Helene)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 572

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ZILLMANN: TÖNENDES SCHWEIGEN.

und es ist nicht erwiesen, dass die Sache
an sich ein Übel sei. Ohne die grossen
Städte, wo die jungen »Entwurzelten«
ein häufig sehr rauhes Leben führen,
hätten unsere zu sanften, zu mütterlichen
Civilisationen gar bald die verfallende
Energie der europäischen Rassen aufge-
braucht. Die scheinbare Ungerechtigkeit,
die im socialen Kampf den Schwachen
durch den Starken zerschmettert, ist unser
letzter Rettungsanker, unsere letzte Kräfte-

quelle als Schutz gegen die Vorherrschaft
der Schwächen und des Verfalls. Die
Ungerechtigkeit ist eine gute spartanische
Mutter, die ihre schwächlichen Kinder
erwürgt und noch hie und da einige gute
Exemplare hervorragenden Menschenthums
formt — — doch ich halte inne. Wie
viele Menschen gibt es denn, die fähig
sind, ohne Entrüstung das Lob der Un-
gerechtigkeit anzuhören?*

Paris, im October 1899.

* Aus dem Manuscript übertragen von CLARA THEUMANN.

TÖNENDES SCHWEIGEN.
Von HELENE ZILLMANN (Berlin).

In uns — um uns — über uns:
die Welt. Hinüber und herüber seine
unsichtbaren Fäden webend: der Gedanke.
Die Welt in uns, die unsere eigenste ist,
denn wir sind diese Welt, und dennoch
die uns fernste, solange wir nicht in
unserer Seele leben. Die Welt um uns,
die wir die wahre nennen, und die nur
Maja, die Welt der Illusion ist. Die Welt
über uns —: ein getreues Ebenbild der
Welt in uns. Der Gedanke, der Geist
und Sinnenwelt verbindet —: keine leere
Abstraction, sondern die gewaltigste,
schöpferische Macht, der grausamste Zer-
störer zugleich! Nicht Baum, nicht Strauch,
nicht Sonnen, nicht Welten um Dich ohne
den Gedanken. Ehe ein Mikrokosmos, ein
Makrokosmos Deinen Sinnenaugen erstand,
war alles, das Du siehst, vollendet im
Gedanken. Wie jedes Bildwerk erst als
Idee im Geiste seines Schöpfers ist, so
gab es Welten, vollendet als Ideen im
All-Sein.

Sei harmlos und zugleich vermessen
genug, nach der Herrschaft des Gedankens
zu trachten. Dein Sehnen und Deine
Wünsche sind oft so vermessen in ihrer
Thorheit, aber sie sind klein und nichtig
im Lichte der Vermessenheit, die ich mir
von Dir ersehne. Dünkt es Dir denn, ein
so Kleines, dem Gedanken zu gebieten?
Kennst Du ihn denn? Hast Du es einmal

mit ihm versucht? Dann wüsstest Du
auch, wie schwer er zu halten ist — und
gerade in Momenten, da wir ihn so sicher
in unserer Gewalt glauben.

Damit ihm aber die Lust vergehe,
weit abzuschweifen, concentriere ihn ein-
mal auf Deine äussere Hülle. Und siehe:
Er betrachtet Dich wohlgefällig und
zeichnet Dir ein recht annehmbares Bild
Deines äusseren Wesens. Er hat seine
grossen Laster, der Gedanke, und wenn
man ihn nicht erzogen hat, artet seine
Rede in Schmeicheleien aus, solange er
sich mit Dir beschäftigt. So huscht er
quecksilbern hin und wider. Vergebens
ist Dein Wollen, ihn nach innen zu locken,
denn wenn Du ihn nicht an das Unter-
tauchen gewöhnt hast, bleibt er beständig
an der Oberfläche. Noch eben fesselst Du
ihn an Dich und triumphierst. Mit einem-
male aber ist er entschlüpft. — Flüchtig
ruht er auf jenem Bild dort, das zuerst
als warmer Farbenfleck ihn lockte — von
dem Bilde springt er auf dessen Schöpfer
über — streift secundenlang seine Gestalt,
die Dir vertraut ist. — Führt Dich jetzt
zu anderen Werken des Künstlers — und
sieh, so gaukelt er Dich von Ort zu Ort.
Andere Gestalten tauchen auf. Du ver-
weilst bei Gesprächen, die Du geführt,
bei Urtheilen, die Du gehört hast. Nun
geht es zum Kampf zwischen alter und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 572, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0572.html)