Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 573

Tönendes Schweigen Venedig 1899 (Zillmann, HelenePica, Vittorio)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 573

Text

PICA: VENEDIG 1899.

neuer Art. — Du ereiferst Dich — stehst
mitten drin — bist selbst einer der Käm-
pfenden. So springt er weiter und weiter.
Sieh zu, wohin Du gekommen bist. Mir
scheint, er spielt Fangball mit Dir.

Ich sage Dir, nicht früher wirst Du
den Gedanken beherrschen, bevor Du
nicht das »Nicht-Denken« beherrschest.
Nicht-Denken im Tagesbewusstsein? Gibt
es denn ein Vacuum im Geiste? Nein —
sowenig es eins im All gibt. Der Ge-
danke wird immer da sein, aber das,
was Du zu lernen hast, ist: ihn hinaus-
zusenden, fern, so fern, dass sein Hin
und Her nicht die Welle übersprudelt,
die unaufhaltsam Dich durchflutet —
Dich — mich — das All. Nicht nur die
Vorstellung, die Erinnerung — nein, den
Gedanken selbst weise hinaus aus Dir,
wie einen Eindringling aus Deinem Hause.

— — — Der Gedanke liegt hinter
Dir Nun tritt mit mir hinaus und
lass Dein Auge über die smaragdene
Rasenfläche schweifen, die sich vor
unseren Blicken breitet; wie mit wogenden
Schleiern ist sie von dem warmen Gold-
ton der Lupinen überhaucht. Laut und
tönend die Farben — und dennoch Stille
— klingende Stille Sieh, da hinten,
in dichte blaue Luft gehüllt, wie ein
Gürtel die Ebene umsäumend — der
starre lautlose Wald. Über den Häuptern
riesenhaft schweigender Kiefern, wie ein
rauschender Triumphruf des Schweigens
— noch Gluten der sinkenden Sonne.
Über allem in blauer schweigender Un-
beweglichkeit der Himmel. Sieh, die
Halme und Blütenstengel bewegen sich

leise, kaum merklich im Abendwind —
die Dunstmassen wogen — die Föhren
neigen sich geheimnisvoll — droben
schwingen Ätherwellen beständig —
Massen lösen und dichten sich — —
und dennoch alles Schweigen tiefstes
Schweigen Jetzt stehst Du mit mir
in der Stille — in dem Schweigen aller
Töne, das dennoch ein Gesang ist, lieb-
lich lallend, wie der Mutter Wiegenlied.
Der Gedanke ist hinter Dir, Du bist
Empfinden geworden. Du ruhst in der
Natur und sie erzählt Dir von der Ge-
burt der Götter, von den Zeiten, da
Monde Planeten, Planeten Sonnen zum
erstenmale umkreisten, von der Stunde,
da Licht und Finsternis sich schied. Du bist
nicht mehr Gedächtnis, nicht Vorstellung,
nicht Logik — — Du bist nur Schauen
Hören Fühlen Wie der klare
Waldstrom durch seine moosigen Ufer
dahineilt, so rieseln und rauschen die
Träume der Natur durch Dich in der
Stille. Der Gedanke ist fern, und wie in
milder Betäubung empfängst Du. Es ist
ein Gebären und Wieder-Geboren-Werden.
Wie der Halm im Morgenthau, der Gipfel
des Berges unter dem Strahlenkuss der
aufsteigenden Sonne, so bist Du neu er-
standen — und bist ein Anderer, denn
aus dem Nicht-Denken bist Du hervor-
gegangen und regierst nun über den Ge-
danken. Die Sprache beherrschst Du, weil
Du nun gelernt hast, das Schweigen zu
verstehen. Das Schweigen in Dir — um
Dir — über Dir. — Aus dem Schweigen
bist Du geboren — nun erst wirst Du
die Stimme der Stille hören

VENEDIG 1899.
Ein Epilog von VITTORIO PICA (Neapel).

Wenige Wochen noch, und es schliessen
sich die Thore der dritten internationalen
Kunstausstellung von Venedig. Mit Un-
recht hat es von ihr geheissen, dass sie
gegen diejenigen vor zwei und vor vier
Jahren zurückgestanden sei, was schon
ein Blick auf den Katalog und die sta-

tistischen Zahlen widerlegt. Gewiss hat
keine ihrer Nachfolgerinnen die Wirkung
jener ersten Ausstellung von 1895 erreicht,
denn die, welche den Italienern die erste
Kunde brachte von Dem, was in der Welt
während der letzten Decennien im Reiche
der Kunst vorgegangen, kam wie eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 573, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0573.html)