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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 574

Text

PICA: VENEDIG 1899.

Offenbarung über uns. Nun ist durch die
Gewöhnung ein Theil von dem Reiz der
Neuheit verlorengegangen, und die Be-
schauer sind mit dem Befremdenden und
Überraschenden der neuen Production in-
zwischen so vertraut geworden, dass es
dem Publicum wohl scheinen mag, als sei
diesmal weniger Neues geboten.

Was die Initiative Venedigs für unsere
Künstler bedeutet, das wird sich ent-
scheidend erst im nächsten Jahre in Paris
erweisen. Vermag der italienische Heer-
bann dann würdig neben den auswärtigen
Berufsgenossen zu bestehen, so ist es das
Werk Venedigs, das mit seinen drei inter-
nationalen Ausstellungen die heimatlichen
Künstler aus dem Schlaf rüttelte, ihnen
neue Wege wies, und so unsere bildende
Kunst zu frischem Leben erweckte.

Nun, da ich zum Abschied durch die
Säle wandere, sei es mir gestattet, einen
Rückblick auf unsere heimische Kunst-
production zu werfen.

Jung-Italien hat sich diesmal nahezu
vollzählig eingefunden und dadurch eine
gute Übersicht über den heutigen Stand
unserer Kunst gewährt. Unsere Künstler
sind mit 57 Sculpturen und an 500 Bildern,
die Skizzen, Zeichnungen und Radierungen
nicht mitgerechnet, vertreten: aber ehe ich
von den Lebenden beginne, möchte ich
zwei grosse Todte erwähnen: Giovanni
Segantini*, dieser Gewaltige, fehlte dies-
mal ganz und gar, verscheucht durch die
hostile und verständnislose Aufnahme, die
seine Werke in der Heimat gefunden. Der
nächsten Ausstellung im Jahre 1901 wird
es vorbehalten sein, ein Werk der reue-
vollen Pietät zu üben, wie es diesmal an
einem anderen Frühverstorbenen, dem
Venetianer Giacomo Favretto** geübt
wurde, dessen Collectiv-Ausstellung von
44 Werken einen eigenen Saal füllte. Diese
posthume Huldigung war sicherlich wohl-
verdient, wenn auch Favretto nicht die
höchsten Gipfel der Kunst erklommen hat.
Ist er auch kein Neuerer, kein Pionnier zu
nennen, so war er doch von hoher Be-
deutung für die venetianische Malerei, die

er von dem leeren Romantismus und dem
Conventionalismus, in dem sie befangen
war, zur unmittelbaren Anschauung der
Wirklichkeit zurückführen half. Aber es
wäre billig gewesen, dieser Special-Aus-
stellung noch zwei andere anzureihen: die
der zu rasch vergessenen Maler Cremona
und Fontanesi, deren Einfluss auf die Ent-
wicklung der Kunst in den beiden letzten
Decennien sicherlich nicht geringer war als
der des Favretto. Zu seiner Zeit fanden
seine gefälligen Anekdoten-Bilder freund-
lichste Aufnahme und eifrige Nach-
ahmung; heute ist die Vorliebe für dieses
Genre sehr im Schwinden begriffen; aber
Nachklänge seiner Schule finden sich bei
manchem seiner Jünger, so bei Ettore
Tito, der freilich nur das Beste davon
herübernahm und durch eine stark persön-
liche Note wertvoll machte. Auch zwei
lebenden Italienern — Michetti und
Sartorio — wurden für ihre Werke be-
sondere Säle eingeräumt. Keinem von den
Jungen wurde der Weg leichter gemacht
als dem Maler der Abruzzen. Im Sturm
hat er das Publicum und die Kritik erobert
und sich seither in ihrer Gunst behauptet.
Dennoch empfindet man eine leise Ent-
täuschung in dem Saal, der nicht weniger
als 167 Bilder und Skizzen von Michetti
vereinigt. Denn es sind zum grössten Theil
Bruchstücke und Entwürfe, die sich ganz
wahl- und regellos aneinanderreihen, so
dass man sich das Wertvolle förmlich
heraussuchen muss. Während sich das
allgemeine Interesse seinen Figurenbildern
zuwendet, gebe ich den Landschaften den
Vorzug, in denen er sich als ebenso fein-
sinniger Beobachter, wie suggestiver Dar-
steller erweist.

Fehlt bei Michetti ein Mittelpunkt, so
hat dafür Sartorio seinen »Clou« in
dem kolossalen Diptychon: »Die Gorgo
und die Helden« — »Diana von Ephesus
und die Sclaven«. Dieses Doppelbild mit
den zahlreichen Überlebensgrossen Figuren,
an dem Sartorio zehn Jahre lang gearbeitet,
stellt den Höhepunkt seiner Künstlerschaft
dar. Es ist ein symbolisches Bild, das als
Ganzes die Nichtigkeit des menschlichen

* Vgl. den Aufsatz Vittoria Picas über Segantini: »Wiener Rundschau«, Jahrg. III,
Nr. 23, S. 553 ff.

** Vgl. den Aufsatz Emil Schaeffers über Favretto: »Wiener Rundschau«, Jahrg. III,
Nr. 18, S. 424 ff.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 574, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0574.html)