Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 576

Venedig 1899 Burgtheater: »AgnesJordan« (Pica, VittorioLindner, Anton)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 576

Text

LINDNER: BURGTHEATER.

Vibrieren der Seele fühlt. Als eminent
moderner und vielseitiger Künstler zeigt sich
Troubetzkoy, der die verschiedensten
Vorwürfe mit der gleichen Bravour und
Originalität zu behandeln weiss.

Auf dem Gebiete der decorativen Kunst,
diesem neuerdings so blühenden Zweige,
ist in Italien noch nahezu gar nichts ge-
schehen, und das Kunstgewerbe beschränkt
sich fast nur auf die Nachahmung der
alten Vorbilder. Als rühmliche Ausnahmen
seien vier junge Architekten aus Bologna:
Rubbiani, Tartarini, Sezanne und
Cassanova genannt, die es aus eigener

Initiative versuchen, die innere Decoration
und Einrichtung der von ihnen erbauten
Häuser mit dem Äusseren in Einklang zu
bringen. Einige schwache Versuche sind
auch in der Keramik zu bemerken.
Nennenswert sind nur die Fortschritte
der graphischen Künste, die seit zwei
oder drei Jahren den Vergleich mit den
französischen und englischen Reproduc-
tionen aufnehmen können. Auch der neuer-
dings so eifrig gepflegten Kunst der Buch-
und Noten-Einbände widmen sich einige
unserer jungen Künstler mit grossem Ge-
schick und erlesenem Geschmack.

BURGTHEATER. Erste Première im Spieljahre 1899/1900: »Agnes Jordan«, Schauspiel in vier Acten von
Georg Hirschfeld.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Man hat des öfteren den Versuch ge-
macht, Georg Hirschfeld als Discipel Ger-
hart Hauptmanns hinzustellen und für die
Verirrungen des Schülers den Herrn und
Meister büssen zu lassen. Die »Mütter«
mögen nicht ohne äusseren Grund dazu
verleitet haben. Und Ibsen zeugte Haupt-
mann, Hauptmann zeugte Hirschfeld —
so hiess es fast allenthalben in jenen Jahren.
Die aber heute noch an diesen Stamm-
baum glauben, mögen sich bei »Agnes
Jordan« zu Gaste laden; bald wird ihnen
die Empfindung kommen, dass sich —
von der Rassen-Divergenz der »handelnden«
Personen, der stofflichen Milieus, der Welt-
anschauungen etc. ganz abgesehen —
namentlich auch in der Sonderart des Ge-
staltens, also in dem Vorzüglichsten, das
den Dichter macht, kaum disparatere Ele-
mente finden lassen, als Hauptmann und
Georg Hirschfeld. Man stelle doch beispiels-
weise den »Fuhrmann Henschel« neben
die »Agnes Jordan«. Dort: sorgsamste
Ökonomie im Aufbau menschlicher Figuren
und Zustände, bei aller Schmucklosigkeit

eine Plastik und Polychromie der Diction,
eine Prägnanz in Psychologie und Stimmung,
ein Pointillismus der Nuancen, dem füglich
auch nicht ein einziges Strichelchen ge-
nommen werden könnte, ohne die beab-
sichtigte Mischung in unserer Seele zu
schmälern, eine Spannung der menschlichen
und göttlichen Affecte, die — so klein
auch das Ringsum dieses kleinen Schicksals
sein mag — durch ihre Wucht und Noth-
wendigkeit an die Ate der Alten denken
lässt. Hier: eine geschwätzige, sorglose,
ungezügelte Technik, die sich breit in die
Hüften stemmt, wo Beschränkung noth thäte,
fingerdick unterstreicht, wo Andeutungen
beredter wären, Tüpfelchen unorganisch
häuft, die haltlos zwischen den Contouren
durchfallen, und so als Ganzes spulwurm-
artig über die Bretter kreucht, wo man
den zwingenden Lauf eines unaufhaltsamen
Schicksals erwartet hätte. Wie knabenhaft
und wie senil zugleich nimmt sich solch
schläfriges Bemühen aus, wenn man da
etwa an Hebbels Wort denkt: das echte
Drama des echten Dichters müsste gleich-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 576, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0576.html)