Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 577

Burgtheater: »AgnesJordan« (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 577

Text

LINDNER: BURGTHEATER.

sam die Suggestion geben, als rase ein
Weib mit aufgelöstem Haar verhaltenen
Athems über rothglühendes Eisen. Wie
träg und schwer ist solch ein Versuch,
der ganz im Gegentheil die Suggestion
auslöst: eine verwundete Schnecke schiebt
sich auf einer Gallertfläche ihren kümmer-
lichen Zielen zu und steuert je zwei Zoll
nach rückwärts, so oft sie je einen Zoll
nach vorwärts riskiert.

Und nun bedenke man, was da alles
aus diesem Drama wegfallen könnte, ohne
Lücken zu lassen. Man erinnere sich nicht
gerade an den lehrreichen Präcedenzfall,
der einst Goethe widerfahren: er wollte
Schillers »Räuber«, »Fiesco«, »Kabale
und Liebe« für seine Bühne mildern, kam
aber zu der Erkenntnis, dass sich aus
diesen Dramen, so unsympathisch sie ihm
auch waren, beim besten Willen nichts
streichen oder ändern lasse, weil alles
durchaus wesentlich schien und jedes
Wort auf Posten stand. Man versteige
sich hier nicht zu jenen ernsten For-
derungen, die jedes Kunstwerk als Orga-
nismus
wünschen und keinerlei unor-
ganischen Rest in seinen Zellen dulden
mögen. Aber man sehe dennoch zu, »was
sich hier streichen lässt«, weil dies viel-
leicht nicht ganz ohne Nutzen ist. Da
ergibt sich nun Folgendes:

Willkürlich lässt sich in den Acten,
willkürlich lassen sich die Acte amputieren.
So meisterlich ist dieser Bau gezimmert,
dass man Backsteine, Flachwände, Firste
und Tragbalken herausreissen könnte, ohne
seiner Totalität zu schaden. Der Anfang
könnte ohne Schluss bestehen, der Schluss
ohne Anfang, Anfang und Schluss ohne
Mitte. Beliebig lassen sich die Bilder
durcheinanderschütteln, wie Zwetschken
in einem Weidenkorb. Schneidet man
den letzten Act heraus (Die gealterte
Agnes oder Sie hat überwunden), so
gibt das an sich schon ein selbständiges
Thränenspiel, das — bei Vervollständigung
der einzelnen Nuancen — durch die
Rückklänge an die edle Natur des Onkels,
der sich in Ludwig fortsetzt, und durch
das parodistische Element des greisen
Gigerls in analytischer Weise recht
tragische Perspectiven erschliessen könnte.
Noch besser aber liesse sich der erste Act
isoliert als Drama denken: Die Hochzeit

eines nicht gewöhnlichen Mädchens mit
einem commerziellen Jüngling ist eben in
ritueller Schwere vorbeigerauscht. Er liebt
Meyerbeer, Dumas père, Dienstmädel-
küsse, Circus, Haarpomade, Alltag. Sie
liebt Beethoven, Schiller, Ewigkeitsgefühle,
Seelentiefen und ihn, den Commerziellen.
in dem sie einen Mann (nehmt Alles nur
in Allem) vermuthet. In einer gutgefügten
Scene, die der Hochzeit folgt, ahnt sie
zum erstenmale die Hohlköpfigkeit des
Angetrauten, und in die Wirrnis ihrer
Seele dämmert der Glaube an einen wahr-
haft Edlen auf, der bislang seine Liebe
unter väterlicher Freundschaft verborgen,
nun aber seine tiefe Neigung weinend
gesteht. Zu spät. Der Edelmüthige muss
zusehen, wie der Hohlköpfige mit der
Ungewöhnlichen davongaloppiert. Und so
schliesst der Vorhang eine Perspective
ab, die unmerklich fast, doch deutlich
genug in die trostloseste Zukunft weist.
Der Hohlköpfige ist mit der Ungewöhn-
lichen, Arm in Arm, davongaloppiert, in-
des der Edelmüthige weinend im Zimmer
blieb und nachsah; das sagt uns:
Nun werden die Sinne den Beiden
ein »erstes Glück« improvisieren, das,
wie wir wissen, nur ein Advocatenkniff
der Natur ist, die uns durch Zaubertränk-
lein — meuchlings fast — zu ihren
Zwecken missbraucht und dann im Stiche
lässt; bald hat der Alltag das letzte Blatt
aus dem Hochzeitskränzel gerissen; ist
das Entbindungsbrimborium vorüber, stellt
sich die Gleichmütigkeit ein; ist erst die
Gleichmütigkeit da, lässt die Verachtung
nicht auf sich warten; Verachtung wird
Hass, und Hass wird Flucht, Flucht wird
Reue, Reue wird Sehnsucht, und Sehnsucht
wird Rückkehr. Jetzt schlägt der Selbst-
betrug satanische Capriolen. Die Phrase
nistet sich ins Herz und glorificiert die
Feigheit. Eine »Pflicht« ist — hallelujah
— gefunden; damit ist Existenzberechti-
gung, Lebenszweck, ja Lebensfreude aufs
neue gegeben. Die Ungewöhnliche ist ge-
rettet; das Wirtschaftsschlüsselbund klappert
wieder an ihrer Flanke; das heisst: sie
»geht« jetzt geflissentlich »in ihren Kindern
auf«, sie »sucht in ihren Kindern weiter«
zuleben« und hat, da es zum Sterben
kommt, wahrhaftig »nicht umsonst
gelebt«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 577, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0577.html)