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I.
Stärkere Freundschaften als jene, welche
durch das Ausströmen gleicher seelischer
Kräfte entstehen, sind jene, welche durch
die geheimnisvolle Wahlverwandtschaft
gleicher seelischer Schwächen gebildet
werden. Nichts schmiedet Menschen inner-
licher aneinander, als gleiche Gifte im
Blute, gleiche Wunden, gleiche Krank-
heiten der Seele. Nichts macht Freund-
schaften mysteriöser, süsser, geheimnis-
voller Eine solche Freundschaft hält
uns mit den musikalischen Romantikern
zusammen. Es sind nicht die Feststim-
mungen unserer Seele, welche uns zu ihnen
führen. Alle Lust- und Kraftgefühle finden
in den Werken der Classiker ihre grandi-
osen musikalischen Ausdeutungen. Es sind
die zarten und gebrechlichen Sentiments,
die Melancholien und Träumereien der
Seele, die inneren Mattigkeiten, die leisen
Wallungen der Empfindsamkeit, welche
wir bei den musikalischen Romantikern
wieder suchen. Diese geben ihrer Musik
den bethörenden und süssen Zauber,
den keine frühere Musik ähnlich verfüh-
rerisch aufweist. Was die classische Musik
charakterisiert, ist die seelische Kraft, die
Spannung, die Gewalt, selbst im Depres-
sions-Affecte. Was die romantische Musik
charakterisiert, ist die Leidensfähigkeit und
die innere Gebrechlichkeit, selbst in den
lebensbejahenden Stimmungen. Die Melan-
cholien der Classiker haben Energie genug,
sich auszubreiten, zu vertiefen, breit dahin-
zuströmen. Die kräftigsten und über-
müthigsten Dinge der Romantiker sind
aus tollen Launen leidender Seelen ent-
sprungen, die ein flüchtiges Leben führen
wie Schmetterlinge und andere glänzende
und gebrechliche Dinge. Die Romantiker
geben der Laune, der Harlekinade, der
zartesten seelischen Unruhe, dem bewegten
Nichts eine schöpferische Tiefe, Perspec-
tiven und Ahnungen. Was die Classiker
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in ihrer Fülle an seelischer und productiver
Kraft als Grille von sich abschüttelten,
daraus wird bei den Romantikern ein Lied,
eine Arabeske, eine Skizze von unendlicher
Zartheit, Bewegtheit und Sensibilität.
Man sagt, dass jede Zeit ihre neuen
Melancholien habe, und wir können noch
hinzufügen, dass sie an diesen Melan-
cholien stärker hängt, als an ihren Räuschen
von Kraft und Stärke. Es sind die Melan-
cholien und inneren Gebrechlichkeiten einer
Zeit, die man als specifisch »Modernes«
empfindet. Was den romantischen Musikern
ihren eigensten Reiz gibt, ist das neue Reich
von Melancholien, zu welchem sie den Zu-
gang eröffnet haben. Ein Reich von halt-
losen trüben Stimmungen, die wie ein
Rohr im Winde hin- und herschwanken,
leichtbewegt, zart in der Blüte, deren
einzelne Blätter sanft abfallen. Sie geben
sich den süssen Trunkenheiten ihrer Ge-
fühle umsomehr hin, je weniger sie an
deren Dauer glauben. Deshalb schenken sie
den flüchtigen Launen eine wundersame Re-
sonanz. Sie blättern in ihren Stimmungen
wie eine träumerische Dame in einem Buche.
Verweilen da und dort, lassen die Gedanken
hier ruhen, überschlagen jenes So
haben sie Melancholien gefunden, deren
Reinheit, Zartheit, Erregbarkeit bezaubernd
wirkt, ohne dass sie irgendwie in die Tiefe
gerissen würden, weil sie fühlen, dass
auf dem Grunde jeder ihrer Stimmungen
schon die gegensätzliche ruht. Sie sind
Feuilletonisten der Gefühle; die ersten
grossen Classiker eines nervösen Ge-
schlechtes.
An diese Dinge mahnt der 50jährige
Todestag Chopins (18. October), des
schwärmerischen Euphorions der Musik,
der diese Grundzüge der romantischen
Musik in ihrer grössten Reinheit und Voll-
endung verkörpert. Zärtlicher als dieser
Musiker ist kein zweiter geliebt worden.
Er ist der Vertraute aller Kränklichkeiten
und Empfindsamkeiten, aller âmes malades.
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