Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 579

Burgtheater: »AgnesJordan« (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 579

Text

LINDNER: BURGTHEATER.

die gleichsam als Schleppenträger seiner Ge-
fühle, Worte und Erfahrungen a posteriori
construiert wurden. Wozu also — muss
man mit Lessing fragen — »wozu die
saure Arbeit der dramatischen Form?
Wozu ein Theater erbaut, Männer und
Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert,
die ganze Stadt auf einen Platz geladen,
wenn ich mit meinem Werke und mit
der Aufführung desselben weiter nichts
hervorbringen will, als einige von den
Regungen, die eine gute Erzählung, von
jedem zuhause in seinem Winkel gelesen,
ungefähr auch hervorbringen würde?«*

»Es wäre elend, wenn diese beiden
Dichtungsarten (Drama und Epos) keinen
wesentlicheren Unterschied als den be-
ständigen oder durch die Erzählung des
Dichters unterbrochenen Dialog, oder als
Aufzüge und Bücher haben sollten!«**

Wie soll da also schliesslich die Er-
kenntnis versöhnen, dass wir es in Hirsch-
feld trotz alledem mit einem Dichter zu
thun haben, der zu schauen, zu lauschen,
wohl auch am Leide zu reifen und für
die Erlebnisse seiner Seele die rührendsten
Worte zu finden weiss? Derlei Vorzüge
sind anzuerkennen und sehr zu achten;
es finden sich auch alsbald der Regel nach
Leute, die mit milder Stimme: »Du hast
es gut gemacht« flöten und gönnerhaft die
Schultern des Würdigen betätscheln. Das
sei Dem gegönnt, der dies als Ehre empfindet.
Man ist eben bescheiden geworden in
deutschen Landen, weil heute fast überall
daheim mit Wasser gekocht wird, und wo
es Singvögel zu beurtheilen gibt, freut man
sich — auch wenn sie stumm sind —
zum mindesten, dass sie fliegen können.

So sind wir schon befriedigt, wenn irgendwo
mit Anmuth (Hofmannsthal), Rechtschaffen-
heit (Langmann) oder Rührseligkeit (Hirsch-
feld) gesprochen wird. Das Wort erlebt
eine modische Renaissance, wie nie zuvor,
das Wort in Brocat (Hofmannsthal), Blouse
(Langmann) oder Bratenrock (Hirschfeld),
damit also auch das Journalistische im
sublimiertesten Sinne, das heute nur mehr
den feinsten Ohren einen undichterischen
Klang hat. Aber nur selbstverständlich ist
es, dass dieses Entgegenkommen einer
verbildeten, schlotterichten, halbseitigen
Zeit, die sich mit kleinen Maassen begnügt,
weil sie sich selbst nichts Grosses zutraut,
und diese Nachsicht einer vulgären Kritik
von Dritteldichtern genützt wird. Der
Lorbeer notiert sehr niedrig im Preise; das
Angebot ist zu gross und jagt fast hinter
den Dichtern einher, um ihnen das billige
Kraut gewaltsam in den Frack zu drücken.
Das Reden aber ist im Preise gestiegen;
denn mühelos kriecht es den Hörern ins
Ohr, und die Löffel wachsen, indes die
Seelen verkümmern. Nicht im Anfang war
das Wort; nicht im Anfang unseres Jahr-
hunderts, das durch den Mund des greisen
Goethe das »Bilde Künstler, rede nicht!«
verkünden liess; doch ist es, wie billig,
am parodistischen Ausgange dieser gewal-
tigen Epoche erwacht und triumphiert nun,
dass ihm zu Ehren ein ganzes Rudel eklek-
tischer Ästheticisten Tragantsäulen und
gläserne Tempel errichtet.

Und also dichten unsere Dichter, wenn
sie etwas zu sagen haben, wo man doch
ganz im Gegentheil dann erst dichten
sollte, wenn man nichts zu sagen hat.

* Hamb. Dram., 80. Stück.

** Brief an Moses Mendelssohn v. 18. December 1756.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 579, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0579.html)