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»Tristan und Isolde« in Paris. —
Über die Aufführung dieser Oper im
Nouveau-Théâtre, die Samstag den 28. Oc-
tober 1899 in Paris zum erstenmale in
Scene gieng, schreibt CATULLE MENDÈS:
Das gewaltigste und erhabenste aller
Meisterwerke Wagners weckte flammenden
Enthusiasmus. An diesem Abend trium-
phierte, raste der Excess! Leute von
Talent, angenehme Mittelmässigkeiten
mögen Maass, Gleichgewicht, Geschmack
entwickeln; ihnen steht das an. Aber das
Genie besteht nur durch ein Übermaass.
Seine Function, sein Rangzeichen liegt in
dem Überschreiten der Grenzen. Allerdings
überlässt es nichts dem Zufall, es gehorcht
einem Befehle; aber der Befehl, dem es
sich unterwirft, ist jenem Gesetze ver-
gleichbar, das — unfassbar für uns —
die dunklen und lichten Elementargewalten
zügelt. Das Genie weiss, was es will, und
wenn man sich auch nicht selbst so hoch
emporschwingen kann, um das Warum
seiner Wunder zu begreifen, so muss man
sich ihm dennoch ergeben, denn man
discutiert nicht Nordlichter, Gewitter-
stürme, Erdbebenstösse und Wirbel-
winde; auch nicht die rothen Rosen-
büsche, die gleichfalls — Excesse sind.
Und das Publicum hat keinen Versuch
gemacht, sich Rechenschaft zu geben
über die Ursachen seiner inneren Er-
schütterung; es hat sie hingenommen,
aufstöhnend fast, mit jenem quälenden, an-
betenden Entsetzen, das man nur vor Mirakeln
empfindet. Ein Mirakel — wahrhaftig!
O, wie Recht hatte ich mit meiner Pro-
phezeiung, dass die französische Seele, die
sanft und heftig zu lieben weiss, diesen
»Tristan« wie ein brüderlich vertrautes Echo
weit unmittelbarer nachempfinden würde,
als den Feentraum »Lohengrin« oder den
mysteriösen Entstehungsmythus der Nibe-
lungen oder die lutherische Freudigkeit
der »Meistersinger«, denn hier ist —
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ganz abgesehen von dem Zufälligen der
Legende — ein Ding gegeben, das man
die Brunst der Herzen nennen könnte.
Herzen, die überdies aus leidendem, klaf-
fendem, unverharschtem Fleisch geformt
sind — und, dass uns »Tristan und Isolde«
erobert und auf ewig in Besitz genommen
hat, war unausbleiblich, weil wir ein Volk
von Liebenden sind! Alles wird Frankreich
verziehen sein, weil es so sehr geliebt hat.
So ist hier also »Tristan und Isolde«
auf keinerlei Widerstand gestossen; all-
sogleich ward in die Tyrannis des Meisters
gewilligt. Und Alle wurden bezwungen,
hingerissen, gepeinigt und zu Ekstasen
aufgerüttelt bis ins geheimste Innere ihres
Geistes, ihres Herzens, ihrer Sinne.
Was soll man da erst sagen? Woran
sich erinnern? Welcher Einzelheiten ge-
denken im Angesichte solch eines Wunders?
Man ist jenseits der Kunst (au delà
de l’art).
Das Publicum, dieses bewunderungs-
würdige Pariser Publicum, fähig, sich an
einem Vaudeville zu ergötzen und sich dann
wieder von den erhabensten und stärksten
Lauten menschlicher Liebe rühren zu
lassen, dies Publicum wusste schliess-
lich nicht mehr, was mit ihm geschah.
Aber gebrochen, besiegt, aufs höchste
ergriffen, gab es sich in athemlosester
Spannung dem Riesenwerke hin. Einer
sagte mir: »Also ja! Aber im Grunde —
ich verstehe das nicht. Ist das Poesie?
Ist das Musik? Woraus ist das gemacht?«
Ja doch, ja doch — ich wiederhole es
— das ist nicht Poesie, nicht Musik; das
ist Genie!
Man muss verkünden, dass niemals,
niemals, niemals in irgendeinem deutschen
Theater eine so schöne Aufführung dieses
Meisterwerkes stattgefunden.
Fräulein Litvine ist eine Isolde von
seltenem Reiz und bewunderungswürdiger
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