Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 583

»Tristan und Isolde« in Paris Hofoper: »Der Dämon« (Mendès, CatulleGraf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 583

Text

THEATER.

Lieblichkeit; durch Grazie ersetzt sie, was
ihr an leidenschaftlicher Kraft fehlt,
und ihre einschmeichelnde, geschmeidige
Stimme passt vorzüglich zu diesem Wagner-
drama, das viel italienischer ist, als man
glauben sollte. Fräulein Brema ist eine
superbe Brangäne; mit ihrer kräftigen,
breit tönenden Stimme erwies sie sich
als unvergleichliche Tragödin; mit ihren
Gesten schien sie die grossen Linien des

Schicksals zu zeichnen, das diese Liebes-
tragödie durchzieht. Herr Vallier zeigte
uns einen echten König Marke, majestä-
tisch und väterlich, mit grosser und zärt-
licher Stimme. Das Orchester unter der
tadellosen Leitung Charles Lamoureux’ bot
eine Leistung von so bewunderungswürdiger
Pracht und Sorgfalt, wie sie hier noch
keinem anderen Wagnerdrama jemals zu-
theil geworden.

Hofoper: »Der Dämon« von
Anton Rubinstein. — Das Sujet der
Oper (nach einem Gedichte von Lermon-
tow) gehört dem romantischen Gefühls-
kreise an: durchaus complicierter Natur,
im höchsten Grade tragisch, voll von
gemischten und zwiespältigen Empfindun-
gen. Ein gefallener Engel, der um Liebe
eines Menschenweibes fleht; ein Weib,
die an der Bahre ihres Bräutigams un-
bewusst dem Flehen des erlösungssüchtigen
Dämons Gehör gibt, sind die Helden des
Stückes Die Aufgabe, einem derart
grandios mystischen Dichtwerke die
tönende Seele zu geben, wäre selbst für
den mächtigsten Musiker eine schwere.
Rubinstein sind nur die menschlich-ein-
fachen Scenen, die Idyllen, die Tänze, die
sehnsüchtigen Klagen des Geliebten, die

Reigen der Mädchen gelungen; diese aber in
vollkommen rein und natürlich empfundener
Weise. Wo das Tragische, die Psychologie,
das Dämonische beginnt, hat er nicht
einmal zum Fluge in die Höhen angesetzt.
So gibt es denn in dem Werke wunder-
schöne Episoden; aber die Haupthandlung,
welche sich von diesen hätte abheben
sollen, ist conventionell vertont. Durch
diesen Mangel an grossen, treibenden
Kräften ist das Werk gefallen. Trotz der
grandiosen Aufführung (Fräulein v. Milden-
burg). Trotz der prachtvollen Scenenbilder,
welche in Licht und Farbe auf das schönste
abgetönt waren. Trotz der Orchesterleitung
Gustav Mahlers, welche alle Nerven
bezauberte.

MAX GRAF.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 583, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0583.html)