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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 575

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PICA: VENEDIG 1899.

Lebens verbildlicht. Vom Leben müde
gehetzt, schlafen die Sclaven, welche die
Menschheit verkörpern, zu Füssen der Nähr=
mutter Natur, der vielbrüstigen Diana von
Ephesus, aber noch im Schlaf umfasst ihre
Hand krampfhaft die Chimäre, die sie ge-
fangen hält, der Stachel und die Geissel
ihres Daseins. Die Gorgo dagegen, die ihren
Fuss auf den Nacken der gefallenen Helden
setzt, ein sieghaft schönes Weib, ist Leben
und Tod in einer Gestalt. Abgesehen von
dem tiefen, aber nicht sehr klar aus-
gedrückten Gedankeninhalt, weist Sartorios
Diptychon eine ungewöhnliche Meister-
schaft, namentlich in der Behandlung des
Nackten, auf. Unangenehm berührt dagegen
die geringe Übereinstimmung in den beiden
Theilen des Doppelbildes. In der etwas
manirierten Eleganz eines Triptychons —
»Die Klugen und die thörichten Jung-
frauen« — macht sich der Einfluss der
englischen Präraphaeliten unverkennbar
geltend. Etwa 30 Bilder in Schwarz-
Weiss bringen die strenge Grösse der
römischen Landschaft gut zur Geltung.

Eine Gruppe für sich bilden neun
Maler, die sich 1886 in Rom unter der
Devise: »In Arte libertas« vereinigten.
Ihnen allen gemeinsam ist eine idealistische
Richtung, eine etwas kalte, archaisierende
Manier und ein Hinneigen zur decorativen
Kunst. Ihre durchaus vornehmen Werke
sind dazu angethan, mehr Achtung als
Begeisterung zu erwecken. Als ihre her-
vorragendsten Vertreter möchte ich Gio-
vanni Costa, Adolfo de Carolis und
Edoardo Givia nennen. Um seine Zu-
sammengehörigkeit mit dieser Gruppe zu
betonen, hat Sartorio zwei Aquarelle in
ihrem Saal ausgestellt. Ebenso bekennt
sich Mario de Maria oder Marius Pictor,
wie er sich nennt, dazu, durch die Bei-
fügung zweier prächtiger Bilder, die wegen
ihrer Ausführung und Conception einen
Ehrenplatz verdienen. Sonderbarerweise
zeugen diese beiden Stücke (»Sommerabend«
und »Die Cypressen der Villa Massimo«) für
eine so merkwürdige geistige Verwandt-
schaft mit Böcklin, dass man an eine
directe Anempfindung glauben müsste,
wäre es nicht erwiesen, dass Marius Pictor
schon vor zehn Jahren in der ganz gleichen
Art zu schaffen pflegte, zu einer Zeit also,
wo weder er selber, noch sonst irgendwer

in Italien eine Ahnung von der Böcklin’schen
Kunst hatte.

Unter den Figurenmalern ragt vor
allem Ettore Tito hervor. Von erstaun-
licher Vielseitigkeit und Leichtigkeit im
Producieren, ist Tito unschwer zum er-
klärten Liebling des Publicums geworden.
In den neun lebensvollen Bildern, die er
diesmal ausgestellt, erweist er sich als
glänzender Colorist und scharfer Beobachter,
dem man nur vorwerfen möchte, dass er
sich’s manchmal, des Erfolges gewiss,
allzu leicht macht.

Um der persönlichen Note willen, die
sie in ihre Bilder zu bringen verstehen,
seien noch Previati, Laurenti und
Mentessi erwähnt, die alle drei aus der
alten Kunststadt Ferrara stammen. Im
allgemeinen aber herrscht ein empfindlicher
Mangel an künstlerischer Eigenart in den
Werken der jungen Maler, die nach ihrem
Aufenthaltsort — Neapel, Mailand u. s. w.
— in Gruppen geordnet, auftreten. Nur
in Venedig merkt man, dass sich frisches
Leben regt, und es steht ausser Zweifel,
dass dies der Anregung durch die inter-
nationalen Ausstellungen zu danken ist,
die in der Lagunenstadt eine schönheit-
durchtränkte Atmosphäre zu schaffen und
etwas von jenem Geiste wieder zu beleben
wussten, der einst ganz Italien durchdrungen
und so herrliche Blüten der Kunst her-
vorgetrieben.

Mit grösserer Genugthuung als auf
seine Maler konnte Italien diesmal auf
seine Bildhauer verweisen, die sich den
Franzosen und den Belgiern ebenbürtig
an die Seite stellen durften, den Russen,
Deutschen und Engländern aber überlegen
zeigten. Trentacoste, Troubetzkoy, Ci-
fariello, Quadrelli, Canonica, Romagneli,
sie alle waren durch treffliche und indivi-
duelle Schöpfungen vertreten. Die un-
getheilteste Bewunderung fand Trenta-
costes
»Tochter der Niobe« durch den
cl assisch en Adel der Linien, die seelische
Vertiefung und die hinreissende Anmuth,
die selbst dem Tod seine Schrecken nimmt.
Sehr wuchtig und charakteristisch präsen-
tieren sich die Studienköpfe von Cifariello,
unter denen besonders die Büste des Böcklin
lebhaft interessierte. Der »Christus« des
Bistolfi ist eine Idealgestalt voll
mystischen Zaubers, in der man das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 575, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0575.html)