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Das vergangene literarische Jahr in
Frankreich scheint nicht gerade glänzend
gewesen zu sein; ja, man könnte sogar
sagen, dass es ein für die Literatur ver-
hängnisvolles Jahr war. Kein neues Talent
ist erstanden, und mehrere Berühmtheiten
sind in dem allgemeinen Schiffbruch der
Geister endgiltig gescheitert. Es wäre
schmerzlich, die Nekrologe über dieses
unglückliche Jahr aufzusetzen. Wenn man
die Dinge jedoch von einem höheren
Standpunkte betrachtet, wird man finden,
dass die Literatur nur Fahnenflüchtige ver-
loren hat, und dass eine Körperschaft
oder eine Armee die Fahnenflüchtigen
nie beweinen soll. Glaubt man vielleicht,
dass die Dichter zum Beispiel, die so
sehr ihre Würde vergassen, dass sie in
öffentlichen Versammlungen mit Anar-
chisten, jenen Hilfspolizisten, die für den
Meistbietenden zu haben sind, schrien und
tobten, dass diese Dichter durch ihr
Untertauchen in den politischen Sumpf
eine grosse Leere bei uns hinterlassen
haben? Derjenige, der freiwillig in die
Verbannung geht, der freudig die Regionen
des Gedankens und der Schönheit ver-
lässt, verurtheilt sich selbst; seine Ver-
bannung bedeutet einen Selbstmord; lassen
wir all die Todten und schenken wir
ihnen die letzte Barmherzigkeit, jene des
Schweigens. — Dies wird uns umso
leichter sein, als seit dem Schluss der
Dreyfus-Affaire das französische Leben
neue Jugend und frische Kräfte gewonnen
zu haben scheint; die Flugschriften
werden als Maculatur verkauft, und man
erwartet ungeduldig das Lustspiel oder
den Roman, deren Erfolg die letzten
Miasmen hinwegfegen wird. Man beginnt
sich zu langweilen; die durch ermüdete
Senatoren schlecht angezettelte Ver-
schwörung interessiert fast niemanden
mehr; man braucht Neues. Hoffen wir,
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dass dieses unentbehrliche Neue diesmal
von der Literatur oder der Philosophie
kommen wird.
Bei diesem Worte denke ich an
Nietzsche, dessen Werke in Frankreich
sehr gut aufgenommen werden. Der Er-
folg wird durch die demnächst er-
scheinende billige Ausgabe noch verstärkt
werden, und man muss sich auf das
baldige Gezeter der Universität und aller
liberalen Blätter gefasst machen. Ein
Heer reactionärer Denker wird sich gegen
Nietzsche, den Heiden, erheben, der
neunzehn Jahrhunderte nach der grossen
Sclaven-Revolution darauf verfiel, das
Herrenrecht zu proclamieren, das Recht,
ihr Leben und das Leben zu lenken.
Die Denker, die gemäss den Gesetzen
des überkommenen Gehorsams denken,
sind nicht zufrieden; fast alles, was sie
wissen, würde ihnen nichts mehr nützen,
wenn »Jenseits von Gut und Böse« für
bloss zwei- oder dreitausend freie Geister
ein Brevier würde. Sie denken schon
daran, ihre kläglichen, alten, schwankenden
und kampfesunfähigen Gedanken zu ver-
theidigen und haben auf ihren rissigen
Wällen eine Geschütztruppe aufgestellt,
die die stahlfarbenen, aus guter Pappe
gefertigten Bomben schleudern soll:
»Nietzsche ist kein Philosoph; er ist ein
Dichter«. Diesen Satz habe ich schon
gehört; er muss wohl in Deutschland
unter jenen Philosophieprofessoren und
altmodischen Theologen im Umlauf sein,
die das trockene Brot ihres Evangeliums
in die Milchbrühe des »grossen Chinesen
von Königsberg« (Jenseits von Gut und
Böse) getaucht haben. Was soll man, darauf
antworten? Gar nichts, oder höchstens,
dass es uns ganz gleichgiltig ist, ob die
Lügen von einem Philosophen, einem
Dichter oder einem Ochsentreiber zerstört
werden.
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