Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 592

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris I. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 592

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MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.

die Werke, die dieses Vergnügen ver-
schaffen, sich am besten der Durchschnitts-
intelligenz anpassen, dass die in Form
oder Idee neuen oder kühnen Werke nie-
mals auf die Zustimmung der Durch-
schnitts-Intelligenzen stossen und infolge-
dessen nie Casse machen. Das passiert
ihnen erst später, wenn das geistige
Niveau des Publicums das ihrige erreicht
hat, dann nimmt man sie wieder auf, wie
»Carmen« und »Lohengrin«. Der be-
deutendste Theil der Einnahmen fällt also
Stücken von secundärem Verdienst zu,
deren Eigenschaften niemals originell sind.
Wenn man nur einen einzigen Blick auf
das Jahresrepertoire eines Theaters wirft,
kann man das constatieren; man spielt
vier bis fünf Stücke neuer Autoren mit
literarischen, neuen Tendenzen; dieselben
werden stark commentiert, erreichen aber
nur eine schwache Zahl von Aufführungen,
und zwar aus drei Gründen:

1. Beeinflusst die Kritik, eine so grosse
Bedeutung sie sich auch beilegt, das
Publicum hinsichtlich des Besuches und der
Einnahmen nur wenig.

2. Hat das Publicum gegen die den
Durchschnitt übersteigenden Werke eine
Abneigung.

3. Spielen die Theaterdirectoren wohl
ein oder zwei literarische Stücke, bringen
sie aber schlecht heraus, lassen sie zu
Beginn der Saison spielen und setzen sie
ab, um all ihre Sorgfalt einem im allge-
meinen mittelmässigen Stücke zu widmen,
dessen oberflächliche Durchschnitts-Eigen-
schaften einen finanziellen Erfolg für die
ganze Saison sichern.

Und ich spreche nicht vom Théâtre
Français, wo die Hälfte der Autorenrechte
Racine und Molière zukommt. Das Volks-
theater des Melodramas ist durch seine
Bestimmung schon geschaffen, um der
wirklichen Literatur grosse Einnahmen
abwendig zu machen; und man darf nicht
etwa glauben, dass dieses Geld vom Volke
kommt, denn die ganze Bourgeoisie hat
sich »Die beiden Vagabunden« oder eine
ähnliche Production angesehen, und das
ungeheure Vermögen der Herren d’Ennery,
Jules Mary und Decourcelle stammt zum
grossen Theile von demselben Gelde, das
bei den Schauspielen der Mittelclasse aus-
gegeben wird.

Man kann also mit Recht sagen,
dass die literarischen Einkünfte auf
dem Theater im umgekehrten Ver-
hältnis zum Talent vertheilt werden; das-
selbe ist der Fall, wenn man die gelieferte
Arbeit betrachtet, die ebenfalls in keinem
Verhältnis zu dem Erträgnis steht. Ein
Autor von Talent wird mit sechs oder
acht wenig aufgeführten Komödien un-
endlich viel weniger verdienen, als ein
Vaudevillist mit einem erfolgreichen Vaude-
ville. Es ist also klar, dass die Vertheilung
auf dem Theater empörend ungleich ist,
dass man einige grosse Vermögen und
eine Reihe ungenügender Remunerationen
sieht. Übrigens sind die Sitten des Theaters
in hohem Grade anti-literarisch; sie sind
die des Börsen-Agios, die der grossen
Kaufhäuser; es gibt Lieferanten für be-
rühmte Schauspieler und Schauspielerinnen,
für dieses oder jenes Theater, und die
Literatur hat auf diesem eigenthümlichen
Gebiet sozusagen nichts zu suchen. Ver-
lassen wir also das Theater, um den Buch-
handel
zu betrachten.

Wir werden hier dieselben Eigen-
thümlichkeiten wiederfinden. Zuerst haben
wir hier die klare Scheidung der Geschäfts-
literatur zum Amüsement, für Reisen, See-
bäder, müssige Damen von der literarischen
Literatur. Da wir stillschweigend überein-
gekommen sind, hier nur von der letzteren
zu sprechen, so streichen wir die bedeutende
Summe, die auf die sogenannten Feuilleton-
Romane entfällt. Bemerken wir nebenbei,
dass die Autoren derselben auf dreierlei
Weise Einnahmen erzielen:

1. als Feuilleton in den Zeitungen —
und augenblicklich, da alle oder doch fast
alle Zeitungen für einen Sou verkauft
werden, drängen sich diese Feuilletons,
dieser Abhub der literarischen Küche,
neben Arbeiten eines Paul Adam, eines
Huysmans oder einer Tolstoi-Übersetzung
überall ein;

2. auf dem Theater, auf welchem
Bearbeitungen dieser Werke zur Auf-
führung gelangen;

3. im Buchhandel, wo ihnen die Ehre
des Bandes zutheil wird, von der illustrierten
Lieferung zu 2 Sous ganz zu schweigen.

Um auf die literarische Literatur zurück-
zukommen, so finden wir wieder den
Unterschied zwischen den Neues bringenden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 592, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0592.html)