Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 595

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris I. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 595

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MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.

hören enorme Fähigkeiten an Zähigkeit
und Bildung, encyklopädistische Vorzüge
und eine außergewöhnliche Arbeitskraft,
um in 14 Tagen mehr als einen Artikel
von 20 Seiten zu schreiben, überdies
einen Originalroman fortzusetzen und sein
persönliches Leben zu leben. Ausserdem
sind diese Einnahmen keineswegs stabil;
nichts garantiert sie von einem Jahr zum
andern. Ein Roman wird nicht immer
im Feuilleton veröffentlicht, selbst wenn
es die vorhergegangenen gewesen sind;
kurz, man muss die 11.000 Francs ver-
nünftigerweise auf 8000 Francs redu-
cieren, wenn man sich an die Wahrheit
halten will. Man wird mir sagen, das sei
das Gehalt vieler Beamten, und ich leugne
das nicht. Ich will nur das eine be-
merken: die oben genannte Zahl reprä-
sentiert den Verdienst vieler ausgezeich-
neter Romanschriftsteller, die eine Carrière
von 10—15 Jahren hinter sich haben,
sehr geachtet, sogar decoriert, sehr
thätig, sehr beweglich und sogar vom
Glück begünstigt sind, denn ich könnte
welche nennen, deren Decoration und
deren Berühmtheit einen Verdienst von
höchstens 3000 Francs verbirgt. Man
berechne das Leben in Paris, nehme
an, unser Durchschnitts-Schriftsteller habe
eine Frau und nur ein Kind, und man
wird zugeben, dass man davon nicht
empfangen, für Madame Toiletten kaufen,
die Premieren besuchen und ein Kind
(mit 8000 Francs, die nie zu bestimmten
Terminen kommen) erziehen kann. Das
sind die Thatsachen, das sind die »Dessous«
der Literatur, wenn man von Leuten
spricht, die Glück gehabt und ihre Namen
durchgesetzt haben.

Es versteht sich von selbst, dass die
für einen Roman gebotenen Preise mit
dem Autor variieren, doch ich habe mich
hier nicht mit Ausnahmepreisen zu be-
schäftigen, sondern halte mich an die
Normal-Honorare. Ich spreche auch nicht
von den Pechvögeln, den armen Leuten von
Talent u. s. w.; das gehört nicht in den
Plan dieser Studie.

Die Schriftsteller- Genossenschaft —
angenommen, dass unser Autor nicht gegen
jede Association eingenommen ist —
sichert ihm den Nutzen für die Re-
production seiner Bücher in kleinen Re-

vuen oder Provinz-Zeitungen. Dazu aber
müssen seine Bücher diesen allgemein für
die Familien bestimmten Magazinen ge-
fallen; die Preise für Reproduction sind
sehr schwach, sehr häufig 5 Centimes
pro Zeile, ungefähr 400—500 Francs
pro Roman, manchmal in Glücksfällen
l000 Francs. Hinter dieser Combination
beginnen die Ausbeutungen des Schachers,
Reproductionen oder Neuausgaben mit
Illustrationen etc. Es ist sehr selten, dass
ein literarisches Werk sich dazu herbei-
lässt, und ich habe mich hier nicht mit der
Aufzählung der Mittel und Wege zu be-
schäftigen, die von den Personen ange-
wendet werden, die Bücher fabricieren,
wie sie Seidenwaren verkaufen würden,
und ebenso ingeniöse wie unkünstlerische
Buchhandlungs-Combinationen ersinnen.
Ich studiere hier auch nicht das Schick-
sal des Mannes von Genie, der eine un-
bekannte und unverstandene Auffassung
beibringt, denn ich hätte im voraus ge-
wonnenes Spiel, wenn ich ihn beklagte,
dass er von seiner Feder und seinen Ideen
nicht leben kann; sicherlich sind Stend-
hal
, der sein ganzes literarisches Leben
lang ungefähr 3000 Francs jährlich ver-
diente, oder Verlaine, der dem Verleger
Vanier seine Gedichte für 5 Francs ver-
kaufte, keine gewöhnlichen Beispiele. Doch
ich will auch nicht von den Arrangeuren
von Gemeinplätzen sprechen, welche die
Literatur als ein reines und einfaches
Metier betrachten und mit ihren talent-
losen Bänden die Schaufenster der Buch-
händler vergiften. Ich beschäftige mich
hier mit den ehrlichen Intellectuellen, die
etwas zu sagen haben und Stil, Liebe
zur Literatur, Originalität und Kenntnisse
besitzen.

Diejenigen, die Geschichten und No-
vellen schreiben, können dieselben auch
in der Provinz reproducieren lassen; ein
recht winziger Verdienst. Nehmen wir
dazu noch die Preise der Akademie —
300 oder 500 Francs — hie und da, an-
genommen, dass sich der Autor zu solchen
Preisbewerbungen herbeilässt, so haben
wir alles, absolut alles gesehen.

Bleiben nur noch die Zeitungen übrig
— und hier kommen wir zum Studium einer
der bedenklichsten Schwächen der modernen
Literatur.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 595, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0595.html)