Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 612

Angenehme Reise-Eindrücke Welche Rolle spielt der Architekt in der Entwicklung eines zeitgemäßen Stils (Altenberg, PeterVan de Velde, Henry)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 612

Text

VELDE: DIE ROLLE DES ARCHITEKTEN IN DER ENTWICKLUNG DES STILS.

und streckte sich vor Langeweile. Riesige
Holzbirnbäume standen schwarz und
feucht da. Einmal hörte ich: »Hat jeder
drei Karten?! Bitte, Hilda, einzahlen.
Spiele mit oder spiele nicht mit! Ja?!«
Aus den Küchen der Landhäuser kam
Souper-Duft in die blatt-moderige feuchte
Abendluft hinein. Heute sind Schnitzel!
»Adieu; ich empfehle mich; gib acht auf

der steilen Treppe; no, Carl, was ist
denn das?! — — — —«.

Ich promenierte auf der Landstraße.
Es wurde dunkel. Feuchte kalte Düfte
kamen. Irgendwo musste sogar Schnee
gefallen sein. Die Veranden wurden finster,
die Zimmer hell. Ich promenierte auf der
Landstraße, zwischen weiten umzäunten
Wiesen — — — — —.

WELCHE ROLLE SPIELT DER ARCHITEKT
IN DER ENTWICKLUNG EINES ZEITGEMÄSSEN STILS.
Von HENRY VAN DE VELDE (Brüssel).*

Unter den Künstlern unserer Epoche
sind die Architekten am stärksten von den
Bedingungen abhängig gewesen, welche
das Capital, die Industrie und der Welt-
handel der bestehenden Gesellschaft auf-
erlegt haben.

Nichts verräth so deutlich den gegen-
wärtigen Verfall, wie ein modernes Haus.
Es ist eine betrügerische Bilanz, ein
feuerfester Geldschrank ohne Inhalt.

Und diese falschen Bilanzen und leeren
Geldschränke formen sich straßenweise zu
Cloaken, in denen das Leben verrinnt.
Die Architektur ist so verderbt wie unsere
Moral. Betrug ist die schlechte Qualität
des Materials; Betrug ist die scheinbare
Solidität; Betrug ist die Imitierung
wertvollen Baumaterials durch gering-
wertige Surrogate; Betrug sind alle die
kleinlichen Kniffe, durch die man die Un-
vertrautheit mit dem Metier und die
Vernachlässigung des Wesentlichen zu ver-
hüllen bestrebt ist.

Die Architekten waren bisher mit
allen diesen unredlichen Manövern so be-
schäftigt, dass sie die herannahenden
Schritte der neuen Kunst überhört haben.
Andere Künstler mussten ihnen sogar die
Rolle des Constructeurs aus der Hand
nehmen.

Als die Schönheit wiedergeboren wurde,
Waren die Architekten nichts als »Suiveurs«.

Es ist merkwürdig genug, dass dies in
allen Ländern der Fall war, in denen sich
diese Renaissance zur Geltung brachte.

Unsere entnervende Erziehung, die das
Gedächtnis in demselben Maße bildete, als
sie die Seele verkümmern ließ, und die
mehr Wert legte auf die Vertrautheit mit
vergangenen Zeiten als auf die Kenntnis
der Materialien und Werte, über die wir
heute verfügen, diese entnervende Er-
ziehung, die ihre Jünger entmannte und
alle natürlichen Kräfte zerrieb, war bisher
bestrebt, nur sich selbst zu verherrlichen;
sie wurde zum Selbstzweck, statt uns eine
Baukunst zu geben, in der unser Leben,
unsere Seele und unsere Pflichten zum Aus-
druck gekommen wären. Andererseits muss
man zugeben, dass ein derartig unkünst-
lerischer Unterricht, der ohne weitere
Prüfung alle Äußerungen des Kunst-Empfin-
dens in die drei Formen: Malerei, Bild-
hauerei und Architektur zusammenpreßte,
der heutigen Bewegung die Wege geebnet
hat. Viele, die durch eine solche Er-
ziehung zu Nullen und Mittelmäßigkeiten
herabgedrückt wurden, weil sie ihre
natürlichen Fähigkeiten nicht ausnützen
konnten, waren gezwungen, sich dank der
herrlichen Anregungen Ruskins und Morris’
auf sich selbst zu besinnen, ihre Fähig-
keiten nützlich anzuwenden und auf
diese Weise ausgezeichnete Kunst-Hand-

* Aus dem französischen Manuscript des belgischen Meisters.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 612, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0612.html)