Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 613

Welche Rolle spielt der Architekt in der Entwicklung eines zeitgemäßen Stils (Van de Velde, Henry)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 613

Text

VELDE: DIE ROLLE DES ARCHITEKTEN IN DER ENTWICKLUNG DES STILS.

werker und schöpferische Menschen zu
werden.

Die Offenbarung, dass man trotz
einer unzweifelhaft künstlerischen Neigung
nicht unbedingt unter die Maler und Bild-
hauer gehört, hat viele von uns dazu ge-
bracht, ohne Pinsel und Modellierholz der
Kunst die nützlichsten Handlangerdienste
zu leisten.

Ich habe gesagt, dass wir Morris diese
Offenbarung verdanken. Seine Rolle be-
schränkte sich nicht auf eine praktische
Thätigkeit allein; die Zahl derer, die er
der hoffnungslosen Mittelmäßigkeit, der
Unzufriedenheit mit sich selbst entrissen
hatte, wächst von Tag zu Tag. Sein
Wort ist weit über seine heimatlichen
Küsten hinausgedrungen.

Er ist das erste Beispiel für meine
Behauptungen.

Man kann mir einwenden, dass Morris
Architekt war. Ich antworte: er war es.
Denn später hat er erkannt, welchen Platz er
einzunehmen habe und welchen Nutzen
er aus seinen Vorstudien ziehen könne.
Übrigens, wer könnte behaupten, dass
seine architektonischen Arbeiten Einfluss
auf seine Entwicklung gehabt. Die Viel-
seitigkeit seiner übrigen Arbeiten übertrifft
beiweitem alle Versuche des Constructeus,
sein »Red House« u. dgl. Sein Ziel war,
die Lage des Handwerkers zu heben, darin
Ruskin folgend, der uns zum erstenmale
einen klaren Begriff vom Wesen des mittel-
alterlichen Handwerkers gegeben. Mit einer
hinreißenden Beredsamkeit, die unauslösch-
lich bleibt, hat Ruskin die verschiedenen
Handwerker verherrlicht. Dieser Mann
schob die Grenzen der Kunst ins Unbe-
grenzte, indem er nachwies, dass alle
menschliche Arbeit künstlerisch sei, voraus-
gesetzt, dass man es ihr ansehen könne,
wie sehr die Freude zu ihrer Vollendung
geführt. Dieser Satz bezeichnet den Anfang
der Bewegung. Aber er kam so plötzlich,
dass der romantische Dilettant nicht sofort
auch der Arbeiter werden konnte, der im
Leben und in der That durchgeführt hätte,
was dieser leidenschaftliche Literat ver-
langte.

Und wie viele sind es denn heute in
England, die den Traum des einen und
das thatkräftige Beispiel des anderen so
in sich aufgenommen haben, dass ihr Ehr-

geiz voll befriedigt und ihr Gewissen ganz
beruhigt wurde?

Die Ausstellungen der »Arts and
Crafts« in London haben uns gezeigt, dass
seit 10—15 Jahren ein Sieben-Gestirn von
Künstlern existiert, die zwar der Mehr-
zahl nach ebensowenig Architekten sind
wie Ruskin und Morris, aber dem eng-
lischen Kunsthandwerk neue Anregungen
gegeben und neue Ziele gewiesen haben.

Walter Crane, Cobden-Sanderson!
Wie schwerwiegend ist das Lebenswerk des
ersteren! Soll ich da noch seine Bedeutung
hervorheben oder die Zahl der Industrien
nennen, die seine Thatkraft geschaffen.
Seine Anschauung ist Stil geworden, wie
diejenige des Morris. Sie ist zwar weniger
männlich, weniger ernst vielleicht, aber per-
sönlicher. Das Beispiel, das uns das Leben
des zweiten gegeben, wird in der Geschichte
der Wiedergeburt der Künste, der Industrie
und des Ornaments einen Platz behaupten,
der seinem Werke ebenbürtig ist. Dieser
Mann hat den Talar des Rechtsanwalts
abgelegt und sich geduldig an das Studium
des schwierigsten Handwerks gemacht,
an das Bücherbinden. Heute beherrscht
er es in dem Maße, dass seine Arbeiten
dem Besten gleichzustellen sind. Und
er sowohl wie Morris, wie Selwyn, Image,
Sedding, Day, Heywood Summer, muss
als ein Vorkämpfer unserer Renaissance
betrachtet werden, wie es kein Architekt
— mit Ausnahme des durch Morris mit
fortgerissenen Webb — gewesen ist.

Nach diesen kam Voysij, Architekt
und Neuerer, aber im übrigen nicht ganz
wie sie. Er folgte der Bewegung und diente
deren Impulsen. Aber er brachte wertvolle
Gaben herbei, und sein Werk, gesünder und
kräftiger als das des Crane, freier als jenes des
Morris, bezeichnet die Etappe, zu der das
heutige englische Kunsthandwerk gelangt ist.

Wenn es sich darum handelte, ver-
gleichsweise die Unterschiede klarzu-
legen, die zwischen der englischen und
unserer Kunstindustrie bestehen, dann
müsste das Lebenswerk des Voysij als
Demonstrations-Material herangezogen
werden. Welch bedeutender Gegner steht
uns da gegenüber!

Nach ihm kamen andere Architekten.
Unter ihnen ist Bailli Scott der ver-
dienstvollste.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 613, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0613.html)