Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 622

Ernst Häckels »Welträthsel« Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris II. (Schlaf, JohannesMauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 622

Text

MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.

»Walt Whitman«. Verlag »Kreisende
Ringe«. Max Spohr, Leipzig 1898.)

Überall legt es die Natur — das sollte
als wichtigstes Resultat exact-wissenschaft-
licher Forschung erkannt werden — auf die
Individualität ab; überall bekundet die
Substanz sich als Individualität.

Was hindert mich, in gewissen be-
ginnenden kosmischen Verdichtungspro-
cessen der Welt-Substanz ein immanentes,
unbewusstes Brüten, einen latenten
Schöpfungsplan zu erkennen, in Latenz
hier bereits alle die unendlichen Erschei-
nungen und geistigen Culturen zu sehen
— es erinnert dies so bedeutsam an
Platons Lehre vom »Ort der Ideen« —,
die sich doch als Folgen jener ersten Ur-
sache und jener ersten Pyknose der Sub-
stanz ergeben? Und was hindert mich
ferner, als latenten Motor jener Substanz-
Pyknose irgend ein nach Entfaltung
drängendes Individualitäts-Princip zu er-

kennen, das sich doch als wichtigste
und wesentlichste Entwicklungsfolge jener
ersten substantiellen Pyknose ergibt?

Die accidentielle Individualität zur All-
Individualität, zur Substanz erweitern: dies
beseitigt erst den wesentlichsten Zwiespalt
alles Erkennens. Den ewigen Entwicklungs-
kreislauf der Welt-Substanz als ewige
Metastase der Individualität zu erkennen,
das ist wahrer Monismus und das gibt
dem Bild eines mechanischen Getriebes,
über das Häckel nicht hinauskommt, erst
Leben und Seele. Nicht anders kann das
Phänomen des Bewusstseins begriffen
werden als auf diese Weise. Und hier ist der
Ausgang aller höheren, erneuten Geistes-
wissenschaft, aller Kunst, Ethik und Cultur
der menschlichen Zukunft, für die aller-
dings die Ergebnisse moderner exacter
Wissenschaft von unschätzbarem Wert
sein und bleiben werden

DIE MATERIELLE UND MORALISCHE STELLUNG
DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.
Von CAMILLE MAUCLAIR (Paris).
II.

Ich würde es mir nicht verzeihen, wollte
ich nicht, nachdem ich den Leser in der
vorigen Nummer dieser Zeitschrift so aus-
führlich mit »Krämerfragen« unterhalten,
nun eine höhere, abstractere Beweis-
führung von rein moralischer Bedeutung
beabsichtigen.

Ich habe die öffentliche Meinung hin-
sichtlich der leichten Verdienste und der
bequemen Arbeit des Schriftstellers recti-
ficiert. Jetzt möchte ich zeigen, was dieses
Wesen in der Gesellschaft ist, was die
Organisation seiner Corporation aus ihm
gemacht hat, welcher Charakter sich dort
bildet, auf was er Verzicht leistet und was
er leidet; dann werde ich anzudeuten ver-
suchen, was er thun müsste, um einfach
er selbst zu sein und seinem schöpferischen

Instinct zu gehorchen, ohne sich vom
Leben fälschen und lahmlegen zu lassen.
Da komme ich denn zunächst gleich
zu den Capitalfehlern des Literaten: der
Eitelkeit und dem Egoismus. Die Eitelkeit,
weil er leicht vergisst, dass ihm seine
Gaben von Gott kommen; der Egoismus,
weil er sich beständig selbst beobachtet.
Hätte er diese beiden Schwächen nicht,
so wäre der Schriftsteller ein glücklicher
und bedeutender Mensch; doch die Eitel-
keit erhält ihn in seinem unlogischen, ver-
derblichen und sclavischen Leben; der
Egoismus verschließt ihm den wirklichen
Weg und führt ihn hinsichtlich seiner
eigenen Daseinsberechtigung irre.

Was die Eitelkeit betrifft, so ist Paris
dafür der schrecklichste Nährboden, und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 622, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0622.html)