Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 626

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris II. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 626

Text

MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS .

Welche Schlussfolgerungen hat man
nun aus diesen Ausführungen zu ziehen?
Man wird vielleicht zugeben, dass sie sich
auf folgende Betrachtungen reducieren
lassen:

Der Schriftstellerberuf ist, praktisch
genommen, ein schwieriger Beruf mit sehr
langsamem Avancement, der eine besondere
Begabung verlangt und ungefähr wie der
ehrenhafte Durchschnitt der öffentlichen,
gerichtlichen oder administrativen Func-
tionen und mit weit geringerer Sicher-
heit, Behaglichkeit und Muße bezahlt
wird. Alles in allem, ist die einzig mögliche
Basis in diesem Zustand, wie in allen
anderen, ein persönliches Vermögen, das
einem gestattet, Einnahmen abzuwarten
und einzig und allein nach seinem
Geschmack zu schreiben, oder eine reiche
Heirat, die den Mangel des Vermögens
ausgleicht. Und thatsächlich streben die
meisten nach dieser Lösung, wenn sie
nicht von ihrer Familie von Haus aus
einen verhältnismäßigen Wohlstand er-
halten haben. So fühlt man also, dass in
dieser ganzen Carrière ein seltsamer, ge-
heimnisvoller Irrthum steckt.

Die Literatur ist keine Carrière.
Der Irrthum besteht darin, dass man sie
für eine solche hält. Die Literatur ist
weder ein elegantes Amüsement, noch eine
Aristokratie, noch ein Handwerk. Sie ist
in Wirklichkeit eine moralische Mission
und eine harte, schwere, mit dem ge-
wöhnlichen Leben unverträgliche Verpflich-
tung. Sie wird nur durch eine Reihe von
Notwendigkeiten und Ausflüchten mit
einer Entgelt bringenden Arbeit und einer
Profession in Verbindung gebracht. Wenn
sie ein Handwerk geworden ist, so ist
das nothgedrungen geschehen; sie sollte
es aber nicht sein.

Die Gabe zu schreiben birgt eine
ernste, tiefe Verpflichtung, die sehr genaue
moralische Pflichten schafft und zu einer
steten Selbst-Beobachtung anhält, so dass
das Leben des Schriftstellers mit seinen
Gedanken und seinen Büchern im Ein-
klang stehen muss. Für diese zeigt sich
die Rolle des Schriftstellers als eine be-
deutende, sei es, dass er sich, auf die
Schöpfung wertvoller, gelehrter Werke

beschränkt, die für ein sehr spärliches
Publicum bestimmt sind, sei es, dass er
eine sociologische Wirkung auf seine Zeit
ausüben will. Ein Schriftsteller muss glauben,
er sei mit einer großen, bedeutungsvollen
Aufgabe betraut, der er sich nicht ent-
ziehen kann. Ist er aufrichtig, so wird er
sofort die Kleinlichkeit, das Elend der als
Carrière betrachteten Literatur bemerken
— und seinen Entschluss fassen. Er wird
begreifen, dass er das Pariser Leben fliehen
muss.* Er muss sich von allen Vortheilen
der Carrière fernhalten, ohne sie zu bedauern,
muss mit allen eitlen Neigungen reinen
Tisch machen. Wenn ihm das gelingt,
dann erst begreift er die Größe und die
schwermüthige Schönheit seines intel-
lectuellen Berufes. Er entschließt sich
fröhlichen Herzens zu bescheidenem Leben,
er fügt sich in den Verlust finanzieller
Vortheile und in beschränkte Einnahmen;
er weiß, dass es nicht seine Aufgabe ist,
in den Premieren zu glänzen, seine Bücher
in großen Auflagen zu verkaufen, sein
Knopfloch zu schmücken, vor den Frauen
zu paradieren, bei den officiellen Dîners
zu figurieren, mit einem Wort: ein Komö-
diant zu sein. Er wird sich nach und nach
zu dem Gedanken erheben, dass dies alles
erbärmlich ist, und die geheimnisvolle
Stimme vernehmen, die da ewig spricht:
»Das Heil ist in euch.« Er wird
Frieden mit seiner Seele schließen, indem
er die berufsmäßige Eitelkeit tödtet, indem
er sich demüthigt, wenn der Stolz und Hoch-
muth ihn packt. Er wird sich mit unbeug-
samer Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit
prüfen, denn er weiß, dass man sich und
seine Fehler nicht schonen darf. Er wird
sich selbst als sein schwierigstes Werk
betrachten, an dem er stets aufs neue
herumfeilen müsse. Dann wird er sich
mit frommer Ehrfurcht den Werken der
Todten zuwenden und fühlen, welche
Verpflichtungen sie ihm auferlegen.
Vor allem aber wird er sich mit Mit-
leid und Erbarmen waffnen und alles von
einem erhabenen Standpunkte aus be-
trachten. Seine erste Aufgabe wird es sein,
jede Lüge zu fliehen, für sich und für andere,
und schon diese Bedingung allein wird
ihn anti-social machen. Denn es gibt im

* Camille Mauclair hat sich vor wenigen Wochen in Marseille niedergelassen.

DIE RED.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 626, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0626.html)