Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 627

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris II. Ein Gespräch mit Walt Whitman (Mauclair, CamilleGosse, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 627

Text

GOSSE: EIN GESPRÄCH MIT WALT WHITMAN.

Leben; wenn man kein Hampelmann ist,
sondern es mit Überlegung und Nachdenken
durchwandert, weder Gesetze noch Prin-
cipien, noch Systeme; das sind künstliche
Zeichen, die das Gewissen bei den Wesen
ersetzen sollen, die sich nicht selbst eins
zu schaffen verstanden haben. Es gibt für
die anderen nur Charaktere, die außerhalb
jedes socialen Ranges stehen, Charaktere,
die man begreifen und nach denen man
sein Verhalten und seine Sympathie regeln
muss.

Der wahre Anarchist, d. h. der Mann,
der die Individuen und Charaktere an sich
betrachtet, ohne auf ihr Vermögen, ihre
Kaste und ihren Beruf Rücksicht zu nehmen,
ist augenscheinlich der Schriftsteller. Mit
seinem Zimmer, in dem er ruhig arbeiten
kann, seinen Spaziergängen, seinem täg-
lichen Brot und seiner ernsten Liebe, ist
ein dieses Namens würdiger Mann stets
reich genug.

Zu einer Stunde, da der Kastengeist
im Todeskampfe liegt, und die Menschen
ungleich mehr durch sich selbst als durch
ihre Functionen gelten, muss die Rolle
des Schriftstellers mehr und mehr den
Charakter einer Mission annehmen. So
werden auch die literarischen Klatsch-
Stuben eingehen, und mit ihnen die jour-
nalistische Literatur, wie die kleinen
politischen Parteien des Parlamentarismus
bereits im Absterben begriffen sind.

Das Problem des moralischen und ma-
teriellen Lebens des Schriftstellers in Paris
wird sich dann ganz von selbst lösen.
Er wird sich dann nicht mehr fragen, ob
sein Beruf auch eine Carrière ist, und
sich an das Wort Villiers de l’Isle-Adam
erinnern: »Es gibt für uns Schriftsteller
nicht bloß die Trompeten des Ruhmes; es
gibt auch die des jüngsten Gerichtes,
und das Kupfer der letzteren ruht schon
in unseren Stimmen.« Wenn aber das
Publicum ihn fragt, was er von sich selbst
und seiner Rolle denkt, so wird er ruhig
antworten dürfen:

»Beneidet mich nicht; ich bin weniger
frei als ihr und auch weniger glücklich.
Eure anstrengenden Arbeiten haben ihr
Ende in sich selbst, meine Arbeit ist
unendlich und besteht darin, das zu er-
forschen, was sich in diesem Leben nie-
mals entdecken lässt. Je klarer man sieht,
desto mehr leidet man, bis zu dem Augen-
blick, da man aufhört, sich über sich selbst
Illusionen zu machen, und da man an die
friedliche Vision der Wahrheit heranreicht,
die nie Böses wirkt, wenn man ihr mit
dem guten Willen seines Herzens entgegen-
tritt. Für die Unerreichbarkeit des Ideals
aber gibt es nur den einen Trost: die
Menschheit aufrichtiger zu lieben und
sie von den gemachten Gefühlen zu be-
freien.« *

* Deutsch von WILHELM THAL.

EIN GESPRÄCH MIT WALT WHITMAN.
Von EDMUND GOSSE (London).

Man sagte mir, Whitman sei »uner-
gründlich, verderbt, glorreich, universell
und verächtlich«! Ich liebe diese ausge-
zeichneten Adjective, aber ich weiß nicht,
wie ich sie auf Whitman anwenden soll.
Der arme Swinburne verfiel grausamem
Spott, weil er ihn »eine stark beschwingte
Seele« nannte, »mit prophetischen Lippen,
glühend von den Blutwellen des Gesanges,
and doch ein berauschtes Höckerweib, in
der Gosse taumelnd«. Aber er steht nicht

allein in diesen Widersprüchen. Beinahe
jeder maßgebende Schriftsteller, der es
unternommen, eine Charakteristik Whit-
mans zu geben, hat in dieser Weise
herumgeschwankt. Etwas Mephytisches
athmet aus dieser seltsamen Persönlichkeit,
etwas, was das Urtheil verwirrt, bis
schließlich auch der Bedächtigste seine
Selbstbeherrschung verliert.

Deshalb möchte ich die Theorie auf-
stellen, dass es keinen »wirklichen« Walt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 627, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0627.html)