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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 628

Text

GOSSE: EIN GESPRÄCH MIT WALT WHITMAN.

Whitman gibt; das heißt, dass er nicht
genommen werden kann, wie irgend eine
andere Erscheinung der Literatur ge-
nommen wird, als eine Ganzheit von
positivem Werte und bestimmter Besonder-
heit, wie zum Beispiel das Leben und die
Schriften Racines, Keats oder Jeremias
Taylors. Es ist vielmehr Literatur im
Zustand des Protoplasma — ein intel-
lectueller Organismus von solcher Ein-
fachheit, dass er schnurstracks den Eindruck
jedweder Stimmung annimmt, die ihm
nahen mag. Daher kommt es, dass dem
Kritiker, der Whitman berührt, sofort sein
eigenes, dieser zähflüssigen Oberfläche
aufgetragenes Bildnis entgegenblickt; er
findet nicht, was Whitman zu geben hat,
sondern was er selbst gebracht hat. Und
wenn er in einer ganz anderen Stimmung
zu Whitman wiederkommt, findet er dieses
sein anderes Selbst auf dem empfänglichen
Protoplasma abgedrückt. Wenn man
dieser »Theorie« einen Moment der Be-
trachtung gönnt, erklärt sie alle Schwierig-
keiten in der Kritik über Whitman. Sie zeigt
uns, warum Robert Louis Stephenson
einen Stephenson und warum John Addington
Symonds einen Symonds in »Leaves of
Grass« gefunden hat; sie erklärt, warum
Emerson (1855) das Buch als das
außerordentlichste Erzeugnis von Witz und
Weisheit pries, das Amerika hervorge-
bracht habe, warum Thoreau sagte,
alle Predigten, die je gepredigt worden,
könnten an Gottähnlichkeit dieses Werk
nicht erreichen; sie erklärt, warum
italienische Dilettanten und skandinavische
Gymnastiker, Anarchisten, Pfarrer und
Frauenrechtler — die entgegengesetztesten
und ungereimtesten Typen also — Whit-
man eine Zeitlang in ihr Herz schlossen,
um ihn dann in Entsetzen von sich zu
stoßen und vielleicht dann wieder leiden-
schaftlich zu ihm zurückzukehren. Beinahe
jeder natürliche und sensitive Mensch ist
durch eine Periode grimmigster Whitmano-
mania gegangen — aber dies ist eine
Krankheit, die denselben Patienten selten
mehr als einmal befällt. Und die Menschen
fühlen sich besser darnach.

Wenn wir nicht irgend eine Theorie
dieser Art adoptieren, ist es ungemein
schwer, den fortdauernden Einfluss Walt
Whitmans zu erklären. Dieser Einfluss

hat nun schon mehr als vierzig Jahre ge-
währt, zeigt aber keinerlei Anzeichen
einer Abnahme seiner Lebenskraft. Nie-
mand vermag den Zauber zu analysieren,
aber der Zauber ist unleugbar. Und dabei
weisen seine Bücher keinerlei hervorragende
Züge auf, wie solche in jeder anderen
Literatur beobachtet wurden — von Homer
und David bis hinab zu der jüngsten
Generation. Aber sie bieten eine Art
»Plymouth- Bruderschaft« der Form,
eine Negation aller Gesetze und Rituale der
Literatur. Nicht nur, dass hier Rhythmus
und Metrum nicht sichtbar vorhanden
scheinen, auch die Composition, die Ent-
wicklung, das Stilgefüge, ja selbst die
Syntax und die Grenzen der englischen
Sprache sind arg missachtet. Jeder Leser,
der sich zu Whitman begibt, tritt in un-
cultivierten Wald. Er muss für seine Be-
quemlichkeit selbst vorsorgen. Er wird
aus dem Ausflug machen, was ihm sein
eigener Geist dictiert. Da sind Einöden,
frische Luftregionen, rohe Landschaften
und ein Wasserquell, aber wenn er den
letzteren genießen will, muss er seinen
eigenen Becher mitbringen. Wenn die
Menschen noch jung sind und gern selbst
Hand anlegen, finden sie Gefallen an
einem Picknick in Whitman-Land; aber er
ist nicht für solche, die gewohnt sind,
sich von ihren intellectuellen Annehmlich-
keiten umgeben zu sehen.

In den frühen und mittleren Jahren
seines Lebens war Whitman unbekannt
und selten aufgesucht. Als er alt ward,
ergriffen Pilger nicht selten Sack und
Stab und zogen aus, ihn anzubeten.
Mancherlei Berichte über seine Erscheinung
und sein Gehaben sind bei solchen An-
lässen veröffentlicht worden; — wenn ich
nun noch einen hinzufüge, muss meine
Entschuldigung sein, dass der Besuch, den
ich schildern will, nicht in der üblichen
Weise unternommen wurde.

Als ich im Jahre 1884 in Boston
war, ersuchte mich Whitman brieflich,
Amerika nicht zu verlassen, ohne ihm
einen Besuch abgestattet zu haben. Mein
erster Impuls war es, die Einladung ab-
zulehnen. Comden New-Jersey lag sehr
weit vom Wege ab. Aber besserer Rath

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 628, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0628.html)