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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 631

Text

GOSSE: EIN GESPRÄCH MIT WALT WHITMAN.

Aber dies schien mir nicht ganz richtig.
Geräuschvoll ist sein Humor allerdings
nicht, aber so eine sachte Art schlauen
Spasses — etwa wie die Tennysons
hat er sicherlich. So erzählte er mir von
einem Tribut, der ihm aus Indien gekommen
sei, und fügte mit zwinkerndem Lächeln
hinzu: »Sie sehen, mein barbari-
sches Vogelgeschrei tönt über
die Dächer der Welt
.« — Aber dies
war selten; zumeist schien er in einem
vagen, pastoralen Vergangenheitsleben zu
verweilen, in den lieblichen Tagen, da er
jung war und sich mit den Knaben in
der Sonne tummelte.

Er las mir vielerlei vor — ein neues
Gedicht, seine langen, unregelmäßigen
Zeilen nicht sehr deutlich intonierend, und
eine Vorrede zu irgend einer neuen Aus-
gabe. Ich gestehe, all dies hinterließ mir
nur einen verschwommenen Eindruck, der
sich ganz auflöste in der heiteren Unbe-
fangenheit seiner süßen und würdevollen
Urbanität und seiner katzenartigen Unbe-
weglichkeit. — —

Als ich das kleine Haus verließ und
wieder in der öden Mickelstrasse stand,
schwoll mein Herz voll Liebe für diesen
schönen, alten Mann, der eben in seiner
sachten Betonung gesagt hatte: »Adieu,
mein Freund!« Und heute kann ich
dieses geweihten Tages nicht gedenken,
ohne das Bild des alten Rhapsoden in seiner
kahlen Stube vor mir auftauchen zu sehen,
verklärt vom Glorienschein der Geduld
und Philosophie So zog ein Un-
gläubiger aus zu Walt Whitman und
ward berückt, ohne bekehrt zu werden.

Als der große Condé bei Eröffnung
seines letzten Feldzuges, halb todt vor
Ermattung und Erschöpfung, in sommer-
licher Hundstag-Hitze endlich die kühlen
Wiesengründe vor der St. Antoine-Abtei
erreicht hatte, sprang er plötzlich vom
Pferde, schleuderte seine Kleider von sich
und wälzte sich inmitten seiner starr er-
staunten Officiere fadennackt im Grase
umher. Dann erhob er sich lächelnd, ließ
sich wieder bekleiden und bewaffnen
und zog in den Kampf mit gewohnter
Tapferkeit.

Der Instinct, den diese Anecdote
illustriert, liegt tief in der menschlichen
Natur, und je mehr wir in sociale Con-
ventionen eingewickelt sind, desto sehn-
licher fühlen wir das Bedürfnis nach einer
gelegentlichen Rückkehr zur Nacktheit.
Wenn ein Schriftsteller stark genug ist,
aus irgend einem Grunde das Kleid der
Civilisation abzustreifen, dann ist dieser
Schriftsteller des Willkommenseins bei
Tausenden übercivilisierter Leser sicher.

Nun ist der Grundzug in den Schriften
Walt Whitmans deren Nacktheit. Sie sind
insgesammt eine Verteidigung der nackten
menschlichen Natur. Sie verkünden, dass
die Natur den Menschen glücklich und
tugendhaft gemacht, dass aber die Ge-
sellschaft es ist, die ihn elend macht und
depraviert; deshalb solle er die socialen
Conventionen abschütteln und sich nackt
im Grase unter dem Ahorn wälzen. Whit-
mans Zauber für andere ist eben der, dass
er so genau beobachtet, eine solche Menge
von Beobachtungen darbringt, und die-
selben mit einer so absoluten Vorurteils-
losigkeit wiedergibt, dass jeder Mensch,
der seinen Schriften mit unbefangenem
Geiste naht, in ihnen nothwendig den
Wiederschein eines Theiles seines eigenen
Selbst entdecken muss. Hierin, glaube
ich, liegt das Geheimnis der außerordent-
lichen Anziehung, die diese rhapsodischen
Äußerungen auf die meisten emotionellen
Personen ausüben in der einen oder an-
deren Krise ihrer Lebens-Entwicklung.

Die Schöpfungen Walt Whitmans be-
decken eine große Anzahl von Seiten,
aber ihre Structur ist nichts weniger als
subtil. Wenn ein Leser mittleren Alters
sie sorgfältig studiert, wird er wahr-
scheinlich zu dem Schlusse kommen,
die beste Art, diesen ganz anormalen,
unberechenbaren Schriftsteller zu analy-
sieren, sei die, ihn ganz für sich
allein hinzustellen, als den Schöpfer »auf-
gelöster Gedichte«. Ich bin geneigt, zu-
zugeben, dass es uns »um ein Haar« ge-
glückt wäre, in Walt Whitman den größten
Dichter der neuen Welt zu empfangen,
aber gleichzeitig muss es betont werden:
»um ein Haar«. Dichter sein heißt nicht
unbedingt: ein folgerichtiger und origineller
Denker sein mit einem ausgeglichenen
ethischen System. Eine einzige Ent-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 631, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0631.html)