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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 68

Text

GOURMONT: BRIEF AUS PARIS.

für Villiers eine gewisse Anzahl von
Werken und Documenten über Milton
sammelte, die er vor Vollendung seiner
Arbeit rasch durchlesen wollte. Ich habe
noch das Verzeichnis dieser Bücher, die
er um Rath zu fragen nicht mehr Zeit
gefunden; denn — anfänglich durch andere
Schriften abgelenkt — verfiel er bald in
eine Krankheit, suchte Heilung auf dem
Dorfe und vergaß Milton, um an den
Tod zu denken, den er ohne Bestürzung
und ohne Schrecken herankommen sah.
Dieses Beispiel zeigt, mit welcher Sorgfalt
Villiers selbst das geringste seiner Werke
vorbereitete; für eine 10 Seiten lange
Erzählung präparierte er sich sorgsamer,
als andere für eine lange kritische Arbeit.
L’Eve Future“ verursachte ihm ganz be-
sonders viel Mühsal. Er sollte Physik
studieren, sich über die letzten Ent-
deckungen auf dem Gebiete der Elektricität
informieren und genaue Kenntnisse in
diesem Fache erwerben, um seinem Buche
jene unerlässliche Wahrhaftigkeit geben
zu können, ohne die ein Werk dieser Art
bisweilen Gelächter hervorruft. In seiner
Jugend hatte er Mathematik und Mechanik
studiert, allerdings mehr als Utopist denn
als Gelehrter; er hat das Fieber des Er-
finders in sich gefühlt und (ich habe den
Prospect darüber gelesen) ein neues Be-
wegungssystem für Schiffe ergrübelt. Dieses
Fieber findet sich in „L’Eve Future“ wieder,
einer Erzählung, in der man unter der
Ironie des Träumers, der träumend über
den Wissenschaften gaukelt, die geheime
Freude des Erfinders empfindet, der neue
Mechanismen combiniert hat. Schwer ist
es, zu erfahren, wie lange dieser wunder-
liche Roman unter der Feder geblieben
ist; vielleicht ein Jahrzehnt; erst nach
mühevollen und anstrengenden Versuchen
nahm das Werk seine definitive Form an.
In mehreren fragmentarischen Manuscripten
liegen die ersten Entwürfe dieser Arbeit
vor; sie zeigen uns, dass Villiers zunächst
in einer Art Umnachtung arbeitete, die
sich allmählich erhellte und endlich wie
ein leuchtender Morgen wurde. Wie viel
Bitternisse haben doch — auch im übrigen
— diese Periode seines Lebens durch-
kreuzt! Ein Capitel der „L’Eve Future
beispielsweise wurde in Ermanglung eines
Tisches auf dem Fußboden geschrieben,

da ihm ein Gläubiger die Möbel mit
Beschlag belegt und verkauft hatte. Und
in gut gelaunten Augenblicken behauptete
Villiers, man könne auch — platt auf dem
Bauche liegend — ganz trefflich arbeiten!

Die Familie Villiers de l’Isle-Adam
besaß ein gewisses Vermögen. Villiers,
obzwar sehr stark verschuldet, hatte
niemals Nahrungssorgen, denn sein Vater
pflegte alle Schulden des Sohnes im vor-
hinein auf sich zu nehmen. Aber das Leben
kam ihm oft recht hart an, namentlich
in den letzten Jahren. Eifersüchtig auf
sein Genie und stets in Furcht vor seinem
Sarkasmus, vergaßen seine literarischen
Freunde sehr bereitwillig, dem Dichter
einen Platz im »Echo de Paris« zu ver-
schaffen; doch vergaßen sie nicht, ihn
zu feiern, als er an Lebensüberdruss ge-
storben war. Fast gleichzeitig aber fand
Villiers, den das Publicum nun weniger
ignorierte, zum mindesten eine Com-
pensation im Ruhme. Neben Verlaine
und Mallarmé wurde er Einer der Drei,
die bekanntlich die Dreieinigkeit unserer
neuen Literatur bilden. Bald machte sich
sein Einfluss geltend, der im Laufe eines
Jahrzehnts sehr groß wurde und heute
noch sichtbar und fühlbar ist.

Ich habe die Auswahl der Erzählungen,
aus denen sich die Sammlung „Histoires
Souveraines
“ zusammensetzt, nicht kriti-
siert; indes gestehe ich mein Bedauern
über den Wegfall der „Machine à Gloire“.
Abgesehen davon, dass uns diese Er-
zählung Villiers’ eine gute Probe von den
drei oder vier Abarten seiner Ironie gibt,
hat sie den Wert eines echt psycho-
logischen Documents. Villiers lebte in
der That lange Zeit im Dunkeln, und
dieser Mangel an Ruhm drückte auf ihn
wie ein Mangel an Sonne. Einestheils hat
er ganz recht, wenn er (in der Vorrede
zu „La Révolte“) ausruft: „Que nous im-
porte même la justice!
“ — Aber dies ist
der geringschätzende Schrei des Stolzes,
der nicht dulden will, dass man ihn leiden
sähe. Villiers, der ein sehr hohes Bewusst-
sein seines Wertes hatte, begriff ganz und
gar nicht, dass man ihn so gründlich miss-
verstehen konnte. Die „Machine à Gloire
ist nun die Rache des unbeachteten Genies
an der Stupidität des Publicums und an
der Schlechtigkeit und Dummheit der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 68, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0068.html)