Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 72

Lithographien (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 72

Text

LITHOGRAPHIEN.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Es ist erstaunlich, zu welch subtiler
Vollkommenheit Senefelders Erfindung,
die nicht älter als ein Jahrhundert ist, im
Laufe der letzten Decennien fast plötzlich
sich entwickelt hat. Der fruchtbare Ge-
danke, Kreide- oder Tuschzeichnungen
durch Übertragung auf präparierte Steine
nach entsprechenden Proceduren der Ver-
vielfältigung zuzuführen, hat nur in dem
ersten Drittel dieses Jahrhunderts der
höheren Kunst gedient. Bald bemächtigte
sich seiner das deutsche Handwerk, das
damals sehr im Philiströsen lag, und so
ergab sich allmählich aus der missbräuch-
lichen Popularisierung durch geschäftige
Barbaren eine Unterschätzung des ge-
sammten lithographischen Verfahrens, das
zuguterletzt durch die Erfindung der
Photographie und der photo-mechanischen
Reproductions-Technik ausschließlich in
den Dienst des allgemeinsten Alltags
gedrängt wurde. Dieser retrograde Ent-
wicklungsgang, der erst in den Achtziger-
jahren in einen fortschrittlichen Curs um-
schlug, als Frankreichs und Englands
Stimme auch bei uns zulande Gehör
gefunden, ist heute völlig ins Stocken
gerathen. Die Rück-Entwicklung zum Künst-
lerischen, die sich auf allen Gebieten als
nöthig erwies, lässt uns die photo-
mechanische Technik, die übrigens wohl den
Culminationspunkt ihrer praktischen Voll-
endung erreicht hat, im Stillen gering-
schätzen und auf jene Graphik (Holz-
schnitt, Radierung, Steindruck) zurück-
greifen, in der sich die eigenschöpferische
Absicht des Künstlers mit persönlicher
Unmittelbarkeit verkünden kann. Da es
nun unter dem Einflüsse der genannten
beiden Länder und namentlich auch Japans
das Bestreben der Zeit wurde, der Be-
friedigungsart commerzieller und praktisch-
ästhetischer Bedürfnisse eine artistische
Note zu geben, gelang es zeitgenössischen
Künstlern bald, die Lithographie des Marktes
und der Gasse, die den Forderungen des
Tages zu entsprechen hatte, durch stilistische

Umgestaltung aus dem Niedrigen empor-
zuheben (Kunst-Placate, Buch-Umschläge
und -Illustrationen, Ex libris-Zeichen etc.)
Aus diesen Versuchen erwuchs das Be-
mühen, diesem eminent künstlerischen und
edlen Verfahren auch im Gebiete der un-
angewandten Kunst — jenseits der all-
täglichen Bedürfnisse — durch coloristische
und lineare Veredlung zu jenen alten
Ehren zu verhelfen, die es in Paris
(namentlich als monochrome Druck-
zeichnung) niemals eingebüßt hatte. Diesem
emsigen Bemühen, das von Frankreich
inauguriert wurde, verdankt die Litho-
graphie (und namentlich die polychrome)
jenen erstaunlichen Aufschwung, dessen
wir uns heute in deutschen Landen er-
freuen dürfen — und so ist wieder einmal
aus der geistigen Errungenschaft eines
gesunden deutschen Kopfes durch all-
mähliche Transfusion eines gallischen und
japanischen Bluttropfens ein Kunstmittel
erstanden, das insbesondere in der Ver-
körperung landschaftlicher Stimmungen
wie kein zweites geeignet scheint, das
Leichte, Schwebende, Capriciöse unseres
modernen Natur-Empfindens restlos ein-
zufangen, und dennoch träg und hart
genug ist, das Schwerblütige des deutschen
Naturgefühls dem Lauschenden zu offen-
baren. Wie aber wäre dies möglich ge-
worden, wenn man nicht — neben den
absoluten Fortschritten in der ultra-
sensitivistischen Naturbetrachtung — alles
technische Vermögen der letzten Jahr-
zehnte, das in der Aquarell-, Pastell- und
Radiertechnik errungen worden, diesem
Specialverfahren zunutze gemacht hätte!
Die raffinierte Art, nur nach der flüchtigen
Essenz der landschaftlichen Impressionen
zu haschen, das Sprunghafte, Febrile,
Nonchalante, das Schlotterige, Spielerische,
Prestidigitatorische Derer, die in frei-
williger oder unfreiwilliger Demuth unter
der Tyrannis der Nuance seufzen, bricht
sich heute selbst an dem Medium der
Steinplatten nicht die heupferdchenartige

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 72, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0072.html)