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Schnellkraft. Alles exclusiv malerische
Sehen, alle Neucultur und Degeneration
des Auges, alle Akrobatik der Handgelenke
und Fingerspitzen klingt eben auch aus
den lithographischen Blättern unserer Tage
trotz aller Hindernisse und Hürden mit
einer Vehemenz und Unmittelbarkeit, dass
man vor solch psychischer Equilibristik
in den respectvollsten Veitstanz geräth
und mit dem einen Auge zu lachen,
mit dem anderen zu weinen be-
ginnt. Die gefühls-turnerischen Leistungen
schlagen die buntesten Capriolen auf
allen Gebieten der Kunst und Künste — —
der ARTIST läuft nackt voran über Gassen,
Dächer, Felder, ihm zu Häupten wälzt sich
die Sonne wie ein blutrother Igel, hinter
ihm aber tänzelt der AFFE mit einem
spiegelnden Bombardon, das Programm-
Musik macht und aus goldgelber Pappe
ist. Ella hopp, was soll das werden? Das
soll gar nichts werden. Wir ziehen eben
nur die letzten Consequenzen aus den
geistigen Errungenschaften unserer Vor-
väter, indem wir die überlieferten Möglich-
keiten gewaltsam auseinanderzerren, die
Grenzen verschieben und uns freudig den
Beweis liefern, dass auch an der äußersten
Peripherie eines Abgrunds mit Grazie und
Sicherheit getanzt werden kann. Der alte
Senefelder ist nicht der einzige jener
weiterentwickelten Vorväter, die sich ob
solchen Treibens herumdrehen werden im
Grabe.
Saxa loquuntur. Ehedem stammelten
die Steine. Nun haucht uns das scheinbar
widerspenstigste Material die Melodie
vorübergleitender Nebel oder die milden
Schauer einer Dämmerung oder die compli-
cierten Licht-Phänomene der Luft in
weichen Farben und sanften Linien ent-
gegen. Die Wirkung des Pastellstiftes, der
Radiernadel, des Aquarellpinsels und der
Feder greifen hier ineinander und täuschen
einen Reichthum an Ausdrucksmitteln vor,
den man selbst auf den subtilsten Kupfer-
stich- oder Holzschnittblättern vergeblich
suchen würde. Zudem lassen sich durch
eine mechanische Zerstäubungstechnik (die
namentlich dort zur Anwendung kommt,
wo der Künstler unmittelbar auf Stein
entwirft) annähernd jene Netzhaut-Effecte
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erzielen, die pointillistischen Ölmalern nur
nach qualvollster Kleinarbeit gelingt. Durch
den Über- und Nebeneinanderdruck diverser
Farbenplatten, deren Anzahl bis zu 20
steigen kann, besonders aber durch die
Möglichkeit der verschiedenartigsten »Ma-
nieren« (Feder-, Kreide-, Tusch-, Tamponier-,
Schab-, Wischmanier), deren Handhabung
nicht eben sonderliche Plage erfordert,
erschließt sich dem ausübenden Künstler
überdies eine Scala der mannigfachsten
Nuancen, der pikantesten Coloritmen, die
eine willkürliche Modulation aller erdenk-
lichen Töne zulässt.
Das modern-malerische Bestreben, nur
Das zu veranschaulichen, was die Dinge
füllt und beseelt, was in ihnen tönt und
webt, nicht aber, was sie plastisch vertieft
und gegeneinander abgrenzt im Räume,
findet in dieser verschiedenfältigen Technik
des Lithographen die vielseitigste Unter-
stützung. Dazu kommt, dass diese specifische
Technik keinerlei lyrisierendes Behagen
duldet, vielmehr ein lebhaftes Gefühl für
impulsive Knappheit und also die gesättigte
Abtönung und Vertiefung einer durchaus
geschlossenen Stimmung fordert.
Wo solch künstlerische Concentration
zu einer inneren Nothwendigkeit wird,
zeugen die comprimierten Kräfte eine
klingende Spannung, eine ruhende Beweg-
samkeit, einen latenten Schwingungs-
trieb, der unsere Sinne von innen her zu
sympathetischen Vibrationen zwingt. Die
Linien werden weich, schleifen sich ab,
verflüchtigen sich. Die Contouren verrinnen
allmählich, und plötzlich treten — will
uns bedünken — die Farben aus ihrem
Bette, woraus sich ein coloristisches In-
einanderfluten ohne Halt und Grenze er-
gibt, das den Eindruck des Ätherischen,
Gleitenden, Wechselnden, den Eindruck
der anmuthigsten Bewegtheit weckt. Da-
durch ergibt sich — will uns scheinen,
uns, die wir in diese Wandblätter betracht-
sam versinken, — ein ewig wechselndes
Fluctuieren in der Richtung Bild—Auge—
Seele und Seele—Auge—Bild, ein corre-
spondierendes Hin und Wider, das zu den
geheimsten Wirkungen der Kunst zurückführt
und die geheimnisvolle Macht malerischer
Stimmungen über unsere Sinne erklärt.*
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