Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 89

Die Philosophie des Giordano Bruno I. (Kuhlenbeck, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 89

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KUHLENBECK: DIE PHILOSOPHIE DES GIORDANO BRUNO.

frei von der Umneblung durch die
gewöhnlichen Vorurtheile und Gefühle, die
Behauptungen jeder Partei anhören und
auf genauer Wage alles, was den Sinnen
offenbar, gewöhnlich bekannt und feststehend
dünkt, als wäre es erst zu Beweis zu
stellen, gegen alles, was die Gegenpartei,
mag es auch noch so absurd erscheinen,
vorbringen kann, abwägen«.

Hin und wieder zwar spielt er mit jener
sogenannten ars magna des Raimundus
Lullus, die man, da sie eine Selbstbewegung
der Begriffe darstellt, nicht mit Unrecht
als Vorläuferin der Hegel’schen Dialectik
bezeichnet hat; allein ihm ist diese
Methode mehr ein mnemotechnisches
Hilfsmittel, um das Licht, das er überallher
aufnimmt, in eigenthümlich geschliffenen
Gläsern, z. B. in der Fackel der dreißig
Statuen, in Anlehnung an die griechische
Mythologie wiederzuspiegeln als ein wirklich
heuristisches Princip. Vom Standpunkte
des streng beweisend vorgehenden Dogma-
tismus ist ihm daher der Vorwurf des
Eklekticismus nicht erspart geblieben.
Berechtigt ist dieser Vorwurf, wenn man
neben seiner außerordentlich weitgehenden
Kenntnis der griechischen Philosophen
nicht vergisst, dass er vor allem auch
ein Eklektiker war des großen Buches
der Natur
. Wie der geniale Eklektiker
Goethe, so kann auch Bruno von sich
sagen: »Ich habe alles, was ich gesehen,
gehört, beobachtet habe, gesammelt und
verwendet; ich habe die Werke der Natur
und der Menschen in Anspruch genommen«.
Hiermit erklärt sich gewiss jene keim-
kräftige Totalität
seiner Gedanken-
welt und der auffällige Umstand, dass
neuerdings Parteigänger der verschie-
densten Richtungen, hier Materialisten und
Positivisten, wie Eugen Dühring, dort
Idealisten und selbst Mystiker, wie Carrière
und du Prel, fast wie einst Griechen und
Trojaner um die Rüstung des Achilles,
um Brunos Anticipationen sich bekämpfen.

Anstatt hier mit dieser oder jener
philosophischen Richtung darüber zu rechten,
ob und wie weit sie im Rechte ist, oder
ob Bruno unvereinbare Gegensätze ohne
das Bewusstsein ihres Widerspruches ver-
einen wollte, ziehe ich es vor, die wich-
tigsten Anticipationen seiner Philosophie
zu skizzieren und die Frage der Verein-

barkeit der Urtheilskraft des Lesers an-
heimzustellen.

Uns Modernen gilt mit Recht die
Erkenntniskritik als das erste Kenn-
zeichen philosophischer Besonnenheit, auch
wenn wir nicht, wie manche Nachfolger
Kants, wie gewisse Exacte ϰατ᾽ ἐξοχήν,
das unaufhörliche Wetzen des Messers
für des Messers Endzweck halten und das
Messer schließlich so scharf und schartig
machen, dass es, um einen Ausdruck
Brunos zu benützen, untauglich wird, die
Speise der Wahrheit anzuschneiden. Dass
Bruno nicht ohne erkenntniskritische Ein-
sichten war, ließe sich durch zahl-
reiche Anführungen aus seinen Schriften
darlegen. Ich begnüge mich mit folgendem
Satze: »Wo ist die Wahrheit«, fragt im
Dialog del Infinito Elpin, und Filoteo
(Bruno) gibt die Antwort: »Im sinnlichen
Gegenstande, wie in einem Spiegel, im
Verstande in der Form der Argumentation,
in der Vernunft in der Form der Grund-
sätze und Schlüsse, im Geiste allein in
eigener und lebendiger Gestalt.« Indem
Bruno die bloße Erscheinungswelt von
ihrem Ansichsein unterscheidet und der
Sinnlichkeit nur eine relative Wahrheit
zuschreibt, zweifelt er doch nicht an der
Möglichkeit einer metaphysischen Erkennt-
nis. Für ihn gibt es vielmehr vier Stufen-
folgen der Erkenntnis:

1. Das reell Wahre (die Wirklich-
keit im Sinne des naiven Realismus),
richtige sinnliche Auffassung sowohl der
einzelnen Eindrücke als ihres Zusammens
(verità in speculo, Phänomenalwahres im
Sinne des Kant’schen Idealismus).

2. Das logisch Wahre, dessen Norm
in einer klaren und vollständigen Bildung
von Subjects- und Prädicats-Vorstellungen
besteht, ohne dass man nach der Realität
des Subjects und der Bedeutsamkeit des
Prädicats fragt (verità in modo di argu-
mentazione)
.

3. Das wissenschaftlich Wahre,
für das außer der reellen und logischen
Wahrheit noch die Angemessenheit der
Prädicate für das Ganze des dargestellten
Wissensgebietes, ja für das Wissen über-
haupt gemäß denjenigen inneren und
äußeren Entwicklungs-Verhältnissen maß-
gebend wird, die bei Abwesenheit indi-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 89, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0089.html)