Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 127

Mikrokosmos und Makrokosmos (Kniepf, Albert)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 127

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KNIEPF: MIKROKOSMOS UND MAKROKOSMOS.

das Fatum, ist die Prädestination, ist
die psychologische Nothwendigkeit, dass
es so und so kommen muss, sowohl nach
den subjectiven Tendenzen eines Cha-
rakters, wie nach den objectiven Nöthi-
gungen, welche ihn umgeben. Unwillkür-
lich aber sind die modernen Poeten
beeinflusst von der oberflächlichen mo-
dernen Anschauungsweise, die den Wesens-
richtungen des Individuums mit unge-
nügendem Verständnis gegenübersteht und
alles uniformieren, willkürlich specialisieren
oder ins Maschinenmäßige herabdrücken
möchte, die im Staat wie in der Arbeit
die Lehre vom »l’homme machine« zu
verwirklichen bestrebt ist. Wenn das auch
nicht gelingt, so gibt der Schein der
heutigen centralistischen und bureau-
kratischen Institutionen dieser Anschauung
überall Recht, und die Losung von der
willkürlichen Überwindung der Natur
durch menschliche Kunst und Technik
that ihr Übriges, die Macht des Fatums
und der Prädisposition aus der modernen
Lebensanschauung zu verdrängen.

Allerdings weiß und glaubt heute
kaum jemand, wie weit diese Macht in
Wirklichkeit reicht, und dass sie alles in
und um uns beherrscht, auch die Ideen
und ihren Wandel, sowie die psychischen
Thätigkeitsgruppen, welche wir als Willen
bezeichnen und in denen wir uns so
selbstherrlich vorkommen. Schon die
directe Beobachtung lehrt freilich, wie
wenig weit unser Wille reicht, und dass
wir viel mehr mit dem Strome treiben,
als unser Wille es eigentlich will und
möchte. Nun aber erstreckt sich diese
Bedingtheit und Verknüpfung auf alle
»Zufälle« und auf alle Gelegenheiten zum
Handeln ohne Ausnahme. Unsicht-
bare Gewalten und Reize locken alles
hervor, was uns begegnet, sie machen,
dass wir gerade mit diesem oder jenem
in Berührung kommen, was dann unser
Schicksal durch scheinbar ganz gering-
fügige Anlässe lenkt. Heute wollen wir
etwas thun, werden aber daran verhindert,
und morgen führen wir es ganz anders
oder auch gar nicht aus. Ganz abseits
unserer Affairen gelegene Vorkommnisse
machen plötzlich alle unsere Berech-
nungen zunichte. Was allein einigen Be-
stand zeigt, sind die uns angeborenen

Thätigkeitsrichtungen, und dass wir diesen
folgen, nennen wir unseren »Willen«,
hinter welchem Begriff aber nur eine
vernickelte Maschinerie von Antrieben und
Reizen mit unserer Eitelkeit Verstecken«
spielt und gerade diesen unseren Willen
erst bildet. Auch wird von jedermann
anerkannt werden, dass sich eine große
Fülle von Ereignissen unserem Willen
von Hause aus entzieht; es handelt sich
bei dem Problem also nur um die feineren
Antriebe, und hier lehrt schon die mo-
derne Physiologie, dass die Willenskraft
und ihre Thätigkeitsrichtungen angeboren
sind. Wie es Füchse und Wölfe gibt, so
hat auch der böse Wille bei den Menschen
seine individuelle Prädestination, seine
Bedingtheiten, seine Gesetzmäßigkeit,
derzufolge er ausgelöst wird und Unheil
anrichtet. Zur Ermittlung der böse ver-
anlagten Individuen ist übrigens die
Physiologie und Phrenologie noch eher
geeignet als die Astrologie, denn man
kann es nach dem gegenwärtigen Stande
unseres Wissens nicht aus dem bloßen
Horoskop sagen, ob jemand z. B. stehlen
oder morden wird, aber die Zeiten des
Unglücks lassen sich berechnen.

Überhaupt sollte die Horoskopie nur
als Leitfaden für gegebene und bekannte
Verhältnisse betrachtet werden, nicht als
ein Mittel zur genauen Wahrsagung mit
Angabe aller Umstände und Einzelheiten.
Dass sie eine solche bildscharfe Wahr-
sagung hergeben könne, glaubt man all-
gemein im Publicum auf Grund über-
triebener Berichte und falscher traditioneller
Vorstellungen von der Sache. Nur inner-
halb gewisser Grenzen ist es möglich, die
Art der Vorfälle zu kennzeichnen, denn
die Gestirne und ihre mannigfachen Con-
stellationen zeigen uns ein Gewebe von
typischen Bestimmungen, deren Com-
bination allein erst die Ereignisse in ihren
besonderen Zügen zu enthüllen vermag.
Die damit verbundene Mühe ist überdies
so groß, dass dies der Verbreitung einer
gründlichen Astrologie bedeutende Hinder-
nisse entgegensetzt.

Ich gebrauche einen Vergleich zur
näheren Erklärung. Wie man weiß, ist
es neuerdings gelungen, farbige Photo-
graphien in voller natürlicher, aufs feinste
abgestufter Farbenfülle dadurch zu erhalten,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 127, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0127.html)