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tativer Keuschheit einen weithin schmatzen-
den Kuss auf den Busen der Venus von
Milo. Dem Reinen ist alles rein — aber
ein Fettfleck bleibt auf dem Stein.
Ein Renaissance-Trubel ist losgebrochen.
Heraus mit der wahren Nacktheit, nieder
mit der nackten Wahrheit! Und solche
Vertheidigung unserer »vitalsten Inter-
essen«, solch aufdringlich klebrige Unter-
stützung widerfährt uns von dem
näm-
lichen fashionablen Pöbel, der noch vor
zehn oder fünfzehn Jahren, als die neue
Kunst zum erstenmale die deutschen Spinn-
webenfenster aufstieß, vor den Nackt-
heiten eines Böcklin, eines Klinger, Keller,
Stuck, die damals noch nicht salon-
fähig oder capitalskräftig waren, frech zu
witzeln sich erdreistete! Wahrlich, ist es
auch in der That empörend, ja zum
Himmel stinkend, dass man das pots-
damerseits decretierte XX. Jahrhundert
mit Umsturzvorlagen und verbrecherischen
Maulkorb-Paragraphen einsegnet, dann
ist es nur noch degoutierender und de-
müthigender für jeden freien Künstler
und Mann, als Anwälte des eigenen
Jammers, als Tröster im eigenen Gram,
als Mitstreiter im eigenen Strauß die
gesinnungslosesten, heuchlerischesten und
feilsten Dickbäuche an seiner Seite zu sehen,
die sich nun zähnestochernd und noch immer
recht gönnerhaft tätschelnd herandrängen,
um Schulter an Schulter mit jenen Wenigen
zu Felde zuziehen, deren »Peinlichkeiten« sie
ehedem verächtlich begeifert haben. Aller-
dings, jene Wenigen sind lange schon
aus ihrer Einsamkeit herausgekrochen, sie
haben sich größtenteils frisiert, poma-
disiert, »geläutert« — sie haben es »billiger
gegeben«, wie der Volksmund sagt, haben
das Pfötchenreichen gelernt und waren
molluskenglatt in ihrem Eifer, möglichst
trocken unter Dach zu kommen. Im
übrigen ahnen sie vielleicht nicht ganz,
welch tristes Spiel man mit ihnen treibt,
wie kläglich man sie verunreinigt, wie
sehr sie nur Mittel zum Zwecke sind, und
dass man inmitten der sattesten Fettbürger-
Paschaliks und Thiergarten-Viertel im
Grunde nur von partei-politisch-wirtschaft-
lichen Maximen geleitet wird, wenn man
da heute ad maiorem gloriam artis Tizian,
Böcklin oder — Sudermann gegen Pfaffen
und Junker vertheidigt. Da ist es denn neben-
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her auch nur selbstverständlich, dass aus einer
so abstrusen Wirrnis der Leidenschaften,
Phrasen, Standpunkte und Wertschätzungen,
aus einem so verhaspelten Knäuel der
mannigfachsten Specialgründe und Privat-
motive, aus so überhitzten Spiegelungen
und Brechungen der verschiedenartigsten
Volks-Instincte, die sich alle urplötzlich zu
einer einzigen Kundgebung zu schließen
haben, bisweilen auch recht bizarre
Silhouetten hervortauchen müssen, um
ihre ergötzlichen Schatten auf Augenblicke
in die Runde zu werfen. So war es jetzt
das langbärtige Haupt Sudermanns, das
wie der Kopf des Täufers über den Damen-
hüten des Massen-Meetings gigantisch
emporwuchs — und man erlebte das
tröstliche Schauspiel, den liebenswürdigen
Dichter als befreienden Hermann gefeiert
zu sehen, als National-Heros deutscher
Neukunst, dessen Schöpferarbeit man sich
»nicht hinwegdenken« könne aus der
Gesammtcultur unserer Epoche. Nicht
fern von ihm stand Begas, der königlich
großpreußische Michel-Angelo. Er brauchte
das Haupt nur zu wenden, das zweifach
ambrosische, um mit der kühngeschwun-
genen Nase auf Anton v. Werner zu
stoßen, den Goya des Deutschen Reichs,
der in seiner revolutionären Weise, just
neben Wiehert und Knaus, sein Scherflein
dazu beitragen wollte, Preußens Nacktheit
zu retten. Wo aber blieb Blumenthal?
Blumenthal, der Einzige, den man sich
in Wahrheit aus der Gesammtcultur unserer
Tage »nicht hinwegzudenken vermag«,
da er — nächst Nordau — in der That
der einzige vollgiltige Repräsen-
tant unserer heutigen großbürger-
lichen Geistigkeit in allen Ländern
deutscher Zunge ist. In der ihm eigenen
Bescheidenheit stand er wohl, wie das so
seine Art ist, abseits vom großen Heer-
wege, dafür aber brachte sein Leibblatt
eine flammende Abwehr in einem so
pomphaften Freiheitsschwulst, als hätte
neben der unsittlichen Nacktheit unserer
Kunstwerke gar auch die sittliche Lüstern-
heit unserer Possen und Schwanke von
dieser lex Heinze etwas zu fürchten. Nicht
minder bizarr gieng es in München
zu. Dort hat der einzige »Nachclas-
siker« goetheischer Marke, dessen Lebens-
werk zwischen graziler Verschleierung und
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