Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 160

Das Princip der Geschlechter (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 160

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HARTMANN: DAS PRINCIP DER GESCHLECHTER.

denen die Gehirnspeculation die Empfin-
dungen übertrifft. Beide Fälle haben etwas
Abstoßendes, weil sie nicht naturgemäß
sind.

Man mag darüber streiten, was höher
stehe, der Wille oder der Verstand;
sicher ist es, dass der Mann ohne das
Weib nichts leisten kann, d. h., dass der
Gedanke wohl emporsteigen und von
einem höheren Leben träumen, dasselbe
aber ohne den Willen nicht verwirk-
lichen kann; ist aber der Wille auf
das Höchste gerichtet und dadurch zur
Liebe zum Höchsten geworden, so trägt
diese Liebe nicht nur den Gedanken,
sondern die Seele zum Höchsten empor.
Unter »Seele« verstehe ich das wahre,
individuelle Selbstbewußtsein des Men-
schen, zum Unterschied von seinem
äußerlichen Persönlichkeits - Bewusstsein,
welch letzteres das Resultat seiner Sinnes-
eindrücke ist. Aus dieser emporsteigenden
Liebe entspringt die intuitive Erkenntnis
des Wahren, Guten und Schönen, welche
im allgemeinen bei weiblichen Geschöpfen
stärker ist als bei männlichen, und an
sich selbst viel höher steht als der ana-
lytische Intellect, logische Schlussfolgerung
und Verstandes-Speculation. Die intuitive
Erkenntnis ist geistig-göttlicher Natur, sie
ist sehend; die Denkmaschine zergliedert
und arbeitet im Materiellen; sie ist an sich
selbst, ohne Intuition oder Erkenntnis blind.
Der größte Narr kann ein ausgezeichneter
logischer Denker sein; aber weil es ihm
an der intuitiven Grundlage seines Denkens
fehlt, sind seine Schlussfolgerungen närrisch.
Wahr dagegen ist dasjenige, was sich im
Grunde des Herzens von selber versteht,
und ohne diese selbstverständlichen Wahr-
heiten gibt es auch keine andere als eine
närrische Wissenschaft, aus welcher dann
die größten Irrthümer und Thorheiten
entspringen.

Sehen wir von denjenigen seltenen
weiblichen oder männlichen Wesen ab,
in welchen Liebe und Verstand in Über-
einstimmung sind, und lassen wir die
Abnormitäten von Weibern männlichen
Geschlechts und Mannweibern außerhalb
unserer Betrachtung, so erscheint uns die
Frau, als die Repräsentantin der selbstlosen
Liebe, in ihrer Eigenschaft als die Krone
der Schöpfung. Schon der Name »Frau«

oder »Fräulein« bedeutet Freuen; sie sind
etwas, worüber man sich freut, während
im Manne, als dem Repräsentanten des
kalt berechnenden, lieblosen Denkens,
der Egoismus verkörpert erscheint. Für
ihn gibt es keine andere Rettung vom
Untergang, als die Ehe, d. h. er muss
sich mit der Liebe verbinden, um durch
sie zur wahren Erkenntnis und Unsterb-
lichkeit zu gelangen. Für die Frau aber,
d. h. für die Liebe, bedeutet die Ver-
bindung mit diesem Producte des Egois-
mus ein Herniedersteigen, das ihr wohl
für dieses Leben im Materiellen sehr
nützlich sein kann, aber für ihre geistige
Größe und Erhabenheit von zweifelhaftem
Werte ist. Die reine Liebe, vom Himmel
geboren, das »Ewig-Weibliche« zieht uns
empor; der nach Befriedigung seiner Be-
dürfnisse suchende, egoistische Menschen-
verstand ist aus dem »Fleische« geboren
und gravitiert immer nach dem Materiellen,
der Erde, seiner Heimat, zurück.

Wenn zwei Dinge sich vereinigen
sollen, von denen das eine hoch, das
andere niedrig ist, so ist dies nicht auf
eine andere Weise denkbar, als dass ent-
weder das Höhere zum Niederen herunter-
steigt oder das Niedere sich zum Höheren
erhebt, sonst kommen sie nicht zusammen.
Das Niedere kann sich aber nicht aus
eigener Kraft zum Höheren erheben; dies
geschieht nur dadurch, dass es durch die
Kraft des Höheren zu diesem erhoben
wird.

Steigt das Höhere gänzlich zum Niederen
herunter und vereinigt sich mit ihm, so
wird es dadurch selber erniedrigt und kann
sich nicht mehr erheben. Es ist deshalb
nöthig, dass das Höhere sich nur zum
Niederen herunterwendet, ihm gleichsam
seine Hand reicht, um es zu veredeln
und zu erheben, ohne dass dieses Höhere
dabei seinen Standpunkt verlässt. So sendet
auch die Sonne ihre Strahlen zur Erde
und belebt alles auf ihr, ohne deshalb
ihren Standpunkt am Firmamente zu ver-
lassen. Stiege sie selbst auf die Erde her-
unter, so wäre es nicht nur mit ihrer,
sondern auch mit der Herrlichkeit der
Erde vorbei. Ähnliches findet statt, wenn
sich der Verstand in der thierischen
Leidenschaft verliert, und Ähnliches würde
stattfinden, wenn die Frau gänzlich vom

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 160, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0160.html)