Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 166

Classicität und Germanismus (Chamberlain, Houston Stewart)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 166

Text

CHAMBERLAIN: CLASSICITÄT UND GERMANISMUS.

Geschmackes: »Man könnte den Germa-
nismus als einen weitab von den Städten
gelegenen Küsterhof schildern, voll des
Unwesens von Ziehharmonika und Clavier-
hämmern mit allen zehn Fingern — als
einen abgeschiedenen Platz, in dessen
Helldunkel alle Farben zu jener eichen-
gelben Missfarbe zusammenschmelzen, die
die Vorstellung in uns wachruft, als sei
ein kranker Kater über alle nordeuropä-
ischen Saalparkette spaziert.« Und jetzt
eine Probe der correcten Anwendung
schöner Versinnbildlichungen: »Die Ger-
manen reißen den classischen Erbfeind in
ihre Reihen, binden ihm ihr volkstümliches
Jägerhemd (!) vor den Mund und ersticken
ihn mit ihrem alles trübenden Dämmer-
lichte« (p. 44). Warum die Germanen sich
das Hemd ausziehen, da sie doch Taschen-
tücher erfunden haben, ist nicht recht ersicht-
lich, schon gar nicht, wenn wir erfahren,
dass sie die eigenthümliche, grauselige
Gabe besitzen, die Leute »mit Dämmer-
licht zu ersticken.« Auf der Seite vorher
steht ein ähnlicher stilistischer Megalo-
saurus: »Es gilt, jedwede persönliche Nei-
gung unter den Scheffel zu stellen und
das endgiltige Bild auf den glaubwürdigeren
Platten in einem photographischen Objective
zu sammeln.« Eine Neigung unter den
Scheffel stellen? Meinetwegen! Dann muss
aber die Neigung hier das Licht sein, und
ohne Licht kann man nicht photographieren.

Andererseits aber scheint die Neigung das
Auge selbst zu sein, denn als Gegensatz
werden die »glaubwürdigeren Platten« ge-
nannt; wie man aber ein Auge unter einen
Scheffel stellen soll, übersteigt alle Ein-
bildungskraft; auch begreift man nicht,
wie wir die Bilder auf den Platten sollen
erblicken können, wenn wir das Auge
nicht zu Hilfe nehmen. Und nun gar
diese Platten, die »in einem Objective«
aufgestellt sind. Hätte sich Heidenstam
mit der schönen Technik unserer von
ihm so sehr geschmähten Zeit bekannt
gemacht, so wüsste er, dass ein Objectiv,
in welchem eine Platte steckt, ein genau
ebenso brauchbares Instrument wäre, wie
ein Auge, das einen Balken beherbergt.

Die Schweden, für welche »Classicität
und Germanismus« in erster Reihe be-
stimmt ist, sind ein lebenskräftiges
Volk: für sie bin ich unbesorgt; sie
werden dem in classische Lumpen ge-
hüllten Barbaren heimgeleuchtet haben.
Doch auf uns übt heute alles, was aus
Skandinavien kommt, einen eigenthüm-
lichen, fascinierenden Reiz aus. Daher
äußerte ich mich über diese kleine Schrift
in ausführlicherer Weise, als sie an sich
es verdient hätte. Im Gegensatz zu Heiden-
stam wollen wir von den Hellenen vor
allem das Eine lernen: unsere Eigenart
hochzuhalten und als ein unantastbar
Heiligres zu verehren.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 166, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0166.html)