Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 168

Das tönende Phänomen in der Natur I (Bailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 168

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BAILLY: DAS TÖNENDE PHÄNOMEN IN DER NATUR.

halb des Milieus offenbaren, in dem wir
leben; unserer Intelligenz zwar minder
leicht zugänglich, vermag doch der psy-
chische Eindruck, d. h. die Emotion, die
durch die Thätigkeit der Phänomene in
unserer Seele geweckt wird, dem Scharf-
sinn des Wissenden nicht zu entgehen; aber
die Frage nach den letzten Gründen
dieser Erscheinungen scheint immer noch
den blassen Vermuthungen unserer Ge-
lehrten auf lange Zeit hinaus Trotz bieten
zu wollen — und so weiß man von dem
innersten Wesen des Tons auch heute
nicht mehr als zu den Zeiten des Euclides
und Aristoteles. Soll der modernen Wissen-
schaft die Ehre vorbehalten bleiben, den
Schleier der Sphinx zu lüften, um den
sich ohnmächtige Ödipusse geringschätzig
drehen, seitdem die Schwingen antiker
Weisheit gebrochen sind? Wir haben
Grund zu dieser Hoffnung, wenn wir ver-
wegene Denker den verblüfften Akademien
die Meinung ins Antlitz schleudern sehen:
»man müsse die Erde selbst als ein
Werkzeug der Harmonie in der solären
Welt betrachten, wie das der große
Kepler in so energischer Weise aus-
gesprochen hat.«* Jawohl, von dem Ge-
setz der Analogie, der Wechselbeziehung,
der Aufeinanderfolge und Entwicklung,
von dem uns die Natur auf jedem Schritte
ein Beispiel zeigt, haben wir den Schlüssel
zu allen Dingen zu fordern; und indes
über das Antlitz der Enkel Voltaires noch
immer das Lächeln des Unglaubens gleitet,
hören wir um uns her die tausend ge-
heimnisvollen Geräusche, bei denen die
Einfalt der Völker in ihrer Reinheit
stehen geblieben ist.

Wenn ich in der Luft oder in irgend-
einem Möbel jenes Krachen vernehme,
das jeder kennt und das man nur dem
trockenen Entladungslärm einer elektrischen
Maschine oder einer Leydener-Flasche ver-
gleichen kann, vermag ich mich der Er-
innerung an eine Begebenheit nicht zu
erwehren, die uns einstmals von meiner
Mutter erzählt wurde. An einem der ersten
September-Abende des Jahres 1834, nach
einem sehr heißen Tage, wanderte eine
Gesellschaft junger Leute und Kinder,
darunter sie selbst, in der erfrischenden

Kühle der sinkenden Nacht heimwärts
durch die Felder; da erhob sich plötzlich
ein harmonisches Concert, das die
ländlichen Zuhörer vorerst entzückte,
bald aber in Schrecken versetzte. Diese
seltsame Erscheinung dauerte nicht weniger
als eine Stunde. Es war eine unbestimmte,
undefinierbare, klagende, ätherische
Musik und schien von der Blaisoterie (einem
kleinen, gegen Chaumont-Porcien zu ge-
legenen Hügel) zu kommen und nicht aus
der Waldgegend von Apremont, welcher
Umstand allein schon jeden Gedanken an
vegetabilisch Harmonie ausschließt. Zur
Zeit, da dies sich ereignete, waren in den
Gegenden der wenig musikliebenden Ar-
dennen die Fanfaren und Musikvereine
noch so gut wie unbekannt; auch sind
die Centren von irgendwelcher Bedeutung
(wie Chaumont, Rozoy, Brunehamel, Mont-
cornet etc.) von dem Orte, an dem diese
wunderbare Erscheinung beobachtet wurde,
viel zu weit entfernt, als dass man sie
etwa einer ungewöhnlichen akustischen
Durchlässigkeit der Atmosphäre zuschreiben
könnte. Im übrigen findet die Richtigkeit
der uns von meiner Mutter berichteten
Thatsache im folgenden eine auffallende
Bestätigung: Am 21. October 1880,
wenig vor sechs Uhr abends, vernahmen
die Herren Perron, Capitän Cheyne und
W. de Fonvielle, als sie in der Gondel
des Ballons Nr. 1 der aërostatischen Aka-
demie oberhalb South-Downs schwebten,
ein musikalisches Geräusch von höchst-
wahrscheinlich photophonischem Ursprung.
Es geht dies wenigstens aus den folgen-
den Glossen hervor, die ein Theilnehmer
an diesem Aufstieg einer Abhandlung
Tyndalls über die Stimme des bewegten
Meeres beifügt:

» Dies war bei der Beobachtung, die
wir ein oder zwei Meilen bei Bedmanton
Grounid gemacht haben, nicht der Fall, denn
das Meer war ruhig, ungewöhnlich niedrig, und
der Sand außerordentlich fein. Ich glaube, auf
dieser ganzen Küste war nicht ein einziger
Kieselstein zu finden.« Der Erzähler fährt fort:
»Herr Poey, ein sehr geschickter Meteorologist,
durch ingeniöse Nachforschungen über die kugel-
förmigen Blitzstrahlen und über die Wolken zu
einiger Berühmtheit gelangt, hat uns berichtet,
dass er in dem Observatorium zu Havana, dem er
lange Zeit hindurch als Director vorstand,

Vgl. L’Electricité vom 20. December 1880.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 168, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0168.html)