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Da fand sich keine Erde, kein sich wölbender
Himmel;
Da war nur ein Gähnen der Kinnladen, von
Gras aber keine Spur.«
Es ist interessant, dass der gelehrte
Forscher Bergmann, weit entfernt, sich
an der mystischen Tradition zu begeistern,
die er doch so trefflich beherrschte, in
diesem pittoresken »Gähnen der Kinnladen«
nichts anderes erblickte, als ein Bild des
Nichts, der ursprünglichen Zerklüftung des
Chaos. Wenn aber auch der Ausdruck
»Gähnen der Kinnladen« nicht genügt,
das Schöpfungswort der anderen Kosmo-
gonien zu erklären, dann werden die fol-
genden Zeilen dieser (von Bergmann über-
setzten) »Verzauberung von Gulfi«, der wir
einige Stellen entnehmen, jeden Zweifel
beheben:
»So wie Nifelheim die Kälte erzeugte und
alle eisigen Dinge, so war alles, was in der
Nähe von Muspelheim (Feuerheim) lag, warm
und leuchtend. Auch die gähnende Kluft war
lau wie die ruhige Luft, dort, wo der wärmende
Hauch die Eisrinde erreichte, so dass sie weich
ward und zu Tropfen zerschmolz; und durch
diese lebendigen Tropfen ward er zum Leben
erweckt mit der Macht des Hauches, den die
Wärme gesandt, und es bildete sich eine
Menschengestalt; und dieser Mensch ward
Ymir (der Flüsternde) genannt, derselbe, den
die Hrimthursen (Frostriesen) Oergelmir (Der
mächtig Lärmende) nannten; und aus ihm sind
die Hrimthursen entstanden, wie es in der
kleinen »Vision der Wölfin« geschrieben steht.«
Was in der skandinavischen Schöpfungs-
geschichte Muspelheim (Feuerheim) heißt,
ist gleichbedeutend mit dem Λἰϑήρ der
Griechen. Die deutende Bezeichnung »Der
das Weltall gebärende Mund«, die ich
dem Ausdrucke der Edda: »Gähnende
Kinnladen«, beilege, drängt sich daher
dem Geiste auf, wenn man bedenkt, dass
der menschliche Mund die seltsame Fähig-
keit hat, ganz nach Belieben Kälte oder
Wärme — diese Elemente alles Lebens —
auszuhauchen, die in der oben angeführten
Stelle von Snorri als solche behandelt
werden.
Gehen wir vom Norden zum west-
lichen Asien über, so finden wir dort
unter anderer Form dieselben Mythen
wieder. Die phönycische Überlieferung
berichtet, dass der erste Mann (Protogenes)
und das erste Weib (Eos) von dem Winde
Kolpia und seiner Gattin Baau gezeugt
wurden. Wie Fourmont bewiesen hat, ist
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Kolpia die Vereinigung der drei hebräischen
Worte Kol phi a (die Stimme des gött-
lichen Mundes)
Die Chaldäer haben ein schönes Wort:
»Der Wille, das Gotteswort trennte die
Elemente des Chaos; Gottes Licht durch-
drang das Weltall, beseelte es und erhielt
die durch das Wort geschaffene Ordnung.«
Braucht man noch an den dritten Vers
des ersten Capitels der Genesis zu erinnern?
»Und Gott sagte: Es werde Licht! Und
es ward Licht.« Nicht weniger ausführlich
als das Alte Testament ist der Zohar.
Wir lesen darin: »Als der Mund die Worte
gesprochen, wurden sie auf achtzehntausend
Welten von allen Lippen geflüstert, bis sie
sich in zwölf Straßen und Pfade gesammelt.
Und immer harrt ein Ding des anderen.«
Auf dem Giebel des egyptischen Pan-
theon schwebt Ammon. »Seine Thätigkeit,
auf das uranfängliche Chaos sich erstreckend,
entwirrte es ohne Mühe. Er sprach zur
Sonne: Komm’ zu mir — und die Sonne
kam zu ihm und begann zu strahlen.«
Wo es sich um den (mit dem Allmächtigen
identificierten) Râ handelt, ruft die Hymne:
»Gepriesen seiest Du! Wenn Du am
Firmament dahinwandelst, lassen die Dich
geleitenden Götter Jubeltöne erschallen!«
Parmenides erklärt: »Wort und Ge-
danke müssen Wesen sein, denn das
Wesen besteht, das Nicht-Wesen aber
ist nichts.« (Fragmente.) Plato spricht
von dem göttlichen Worte, das die Welt
erschaffen habe (Epimenomis, Phädon,
Republik). Bei den Neu-Platonikern der
alexandrinischen Schule jedoch muss man
die Lehre vom Λόγος beachten, die sich
bald in die Lehre der ersten Christen
wandelt:
»Im Anfang war das Wort, und das Wort
war mit Gott, und das Wort war Gott. Es
war im Anfang mit Gott. Alle Dinge sind
durch das Wort geschaffen; und nichts von
Dem, was vollbracht worden, ist ohne das Wort
vollbracht worden. In ihm war das Leben, und
das Leben war das Licht der Menschen«
»Und das Wort ist Fleisch worden und hat
sich angesiedelt unter uns.« (Johannes.)
Für die Alexandriner ist Poimandres oder
Hermes Trismegistos das Wort selbst. Das
Buch des Jamblichos über die Mysterien
beginnt mit den Worten: »Der Gott, der
dem Worte gebietet, Hermes « Die
unter dem Namen dieses Gottes ver-
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