Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 198

Zwei Zeichnungen Salome (Beardsley, AubreyWilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 198

Text

WILDE: SALOME.

ERSTER SOLDAT: Prinzessin, der junge Hauptmann hat sich eben entleibt.

SALOME: Lass’ mich deinen Mund küssen, Jochanaan!

JOCHANAAN: Wird dir nicht bange, Tochter der Herodias? Habe ich dir nicht
gesagt, dass ich im Palaste den Flügelschlag des Todesengels gehört habe, und ist er
nicht gekommen, der Engel des Todes?

SALOME: Lass’ mich deinen Mund küssen!

JOCHANAAN: Tochter der Unzucht, es lebt nur Einer, der dich retten kann.
Es ist Der, von dem ich sprach. Geh’, such’ ihn. Er ist in einem Nachen auf dem
See von Galiläa und redet zu seinen Jüngern. Knie nieder am Ufer des Sees, rufe
ihn an und nenne ihn beim Namen. Wenn er zu dir kommt, und er kommt zu allen,
die ihn anrufen, dann bücke dich zu seinen Füßen, dass er dir deine Sünden vergebe.

SALOME: Lass’ mich deinen Mund küssen!

JOCHANAAN: Sei verflucht! Tochter einer blutschänderischen Mutter, sei verflucht!

SALOME: Ich will deinen Mund küssen, Jochanaan!

JOCHANAAN: Ich will dich nicht ansehen. Du bist verflucht; Salome, du bist
verflucht. (Er geht in die Cisterne hinab.)

SALOME: Ich will deinen Mund küssen, Jochanaan, ich will deinen Mund
küssen!

ERSTER SOLDAT: Wir müssen den Leichnam anderswohin tragen. Der
Tetrarch mag keine Todten sehen, außer wenn er selbst gemordet hat.

DER PAGE DER HERODIAS: Er war mein Bruder, ja er war mir näher als ein
Bruder. Ich gab ihm eine kleine Nardenbüchse und einen Achatring, den er immer
an der Hand trug. Abends giengen wir oft am Fluss spazieren und unter den Mandel-
bäumen, und er erzählte mir gern von seiner Heimat. Er sprach immer sehr leise.
Der Klang seiner Stimme war wie der Klang der Flöte, wie wenn einer auf der
Flöte spielt. Er hatte auch große Freude daran, im Fluss sein Bild zu betrachten.
Ich habe ihn oft darum getadelt.

ZWEITER SOLDAT: Du hast recht, wir müssen den Leichnam verstecken.
Der Tetrach darf ihn nicht sehen.

ERSTER SOLDAT: Der Tetrarch wird nicht hieher kommen. Er kommt nie
auf die Terrasse. Er hat zu große Angst vor dem Propheten.

(HERODES, HERODIAS und der GANZE HOF treten ein.)

HERODES: Wo ist Salome? Wo ist die Prinzessin? Warum kam sie nicht
wieder zum Bankett, wie ich ihr befohlen hatte? Ah! hier ist sie!

HERODIAS: Du sollst sie nicht ansehen! Fortwährend siehst du sie an!

HERODES: Wie der Mond heute Nacht aussieht! Es steckt Seltsames in ihm.
Ist es nicht ein seltsames Bild? Er sieht aus wie ein wahnsinniges Weib, ein wahn-
sinniges Weib, das überall nach Buhlen sucht. Und nackt ist, ganz nackt. Die Wolken
wollen seine Nacktheit bekleiden, aber das Weib lässt sie nicht. Er stellt sich nackt
am Himmel zur Schau, wie ein betrunkenes Weib, das durch die Wolken taumelt
Gewiss, er sucht nach Buhlen. Sieht er nicht aus wie ein betrunkenes Weib? Es steckt
heut’ etwas im Mond wie ein wahnsinniges Weib, nicht?

HERODIAS: Nein, der Mond ist wie der Mond, das ist alles. Wir wollen
hineingehen Wir haben hier nichts zu thun.

HERODES: Ich will hier bleiben! Manasseh, leg’ Teppiche hierher! Zündet
Fackeln an! Bringt die Elfenbeintische heraus und die Tische von Jaspis! Die Luft
ist süß hier. Ich will noch Wein mit meinen Gästen trinken. Wir müssen den Ge-
sandten des Cäsar alle Ehren erweisen.

HERODIAS: Nicht um ihretwillen willst du bleiben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 198, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0198.html)