Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 200
Text
HERODES: Schenkt mir Wein ein. (Es wird Wein gebracht.) Salome, komm’,
trink’ Wein mit mir. Ich habe hier einen köstlichen Wein. Cäsar hat ihn mir selbst
geschickt. Tauche deine kleinen rothen Lippen hinein, dann will ich den Becher leeren.
SALOME: Ich bin nicht durstig, Tetrarch.
HERODES: Hörst du, wie sie mir antwortet, diese deine Tochter?
HERODIAS: Sie hat recht. Warum stierst du sie immer an?
HERODES: Bringt reife Früchte. (Es werden Früchte gebracht.) Salome, komm’,
iss mit mir von diesen Früchten. Ich sehe den Abdruck deiner kleinen Zähne in
einer Frucht so gern. Beiß nur ein wenig von dieser Frucht hier ab, dann will ich
essen, was übrig ist.
SALOME: Ich bin nicht hungrig, Tetrarch.
HERODES (zu Herodias): Du siehst, wie du diese deine Tochter erzogen hast.
HERODIAS: Meine Tochter und ich stammen aus königlichem Blut. Du aber,
weißt du, dein Vater war Kameeltreiber! Dein Vater war ein Dieb und ein
Räuber obendrein!
HERODES: Du lügst!
HERODIAS: Du weißt wohl, dass es wahr ist.
HERODES: Salome, komm’, setz’ dich zu mir. Du sollst auf dem Thron
deiner Mutter sitzen.
SALOME: Ich bin nicht müde, Tetrarch.
HERODIAS: Du siehst, wie sie dich achtet.
HERODES: Bringt mir — Was wünsche ich denn? Ich hab’ es vergessen.
Ah! Ah! Ich erinnere mich.
DIE STIMME DES JOCHANAAN: Siehe, die Zeit ist gekommen! Was ich
vorhersagte, ist eingetroffen. Der Tag, von dem ich sprach, ist da.
HERODIAS: Heiß’ ihn schweigen. Ich will seine Stimme nicht hören. Dieser
Mensch beschimpft mich fortwährend.
HERODES: Er hat nichts gegen dich gesagt. Überdies ist er ein sehr großer
Prophet.
HERODIAS: Ich glaube nicht an Propheten. Kann jemand sagen, was sich
in Zukunft ereignen wird? Niemand weiß das. Auch beschimpft er mich fortwährend.
Aber ich glaube, du hast Angst vor ihm. Ich weiß wohl, dass du Angst vor ihm hast.
HERODES: Ich habe keine Angst vor ihm. Ich habe vor niemandem Angst.
HERODIAS: Ich sage dir, du hast Angst vor ihm. Wenn du keine Angst vor
ihm hast, warum lieferst du ihn nicht den Juden aus, die seit sechs Monaten nach
ihm schreien?
EIN JUDE: Wahrhaftig, Herr, es wäre besser, ihn in unsere Hände zu geben.
HERODES: Genug davon. Ich habe euch meine Antwort schon gegeben. Ich
werde ihn nicht in eure Hände geben. Er ist ein heiliger Mann. Er ist ein Mann,
der Gott geschaut hat.
EIN JUDE: Das kann nicht sein. Seit dem Propheten Elias hat niemand Gott
gesehen. Er war der letzte, der Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut hat.
In unseren Tagen zeigt Gott sich nicht. Gott verbirgt sich. Darum ist großes Übel
über das Land gekommen.
EIN ANDERER JUDE: In Wahrheit weiß niemand, ob Elias in der That
Gott gesehen hat. Möglicherweise war es nur der Schatten Gottes, was er sah.
EIN DRITTER JUDE: Gott ist zu keiner Zeit verborgen. Er zeigt sich zu
allen Zeiten und an allen Orten. Gott ist in dem Schlimmen ebenso wie in dem Guten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 200, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0200.html)