Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 201
Text
EIN VIERTER JUDE: Du solltest das nicht sagen. Es ist eine sehr gefährliche
Lehre. Es ist eine Lehre, die aus Alexandria kommt, wo die griechische Philosophie
gelehrt wird. Und die Griechen sind Heiden. Sie sind nicht einmal beschnitten.
EIN FÜNFTER JUDE: Niemand kann sagen, wie Gott wirkt. Seine Wege
sind sehr dunkel. Es kann sein, dass die Dinge, welche wir schlimm nennen, gut
sind, und dass die Dinge, welche wir gut nennen, schlimm sind. Wir wissen von
nichts etwas. Wir können nur unser Haupt unter seinen Willen beugen, denn Gott
ist sehr stark. Er bricht den Starken in Stücke, wie den Schwachen, denn jeder gilt
ihm gleich.
ERSTER JUDE: Du sagst die Wahrheit. Fürwahr, Gott ist furchtbar. Er
bricht den Starken und den Schwachen in Stücke, wie man Körner in einem Mörser
zerreibt. Aber was diesen Menschen angeht, der hat Gott nie gesehen. Seit dem
Propheten Elias hat niemand Gott gesehen.
HERODIAS: Heiß’ sie schweigen. Sie langweilen mich!
HERODES: Doch hab’ ich davon sprechen hören, Jochanaan sei in Wahrheit
euer Prophet Elias.
DER JUDE: Das kann nicht sein. Seit den Tagen des Propheten Elias sind
mehr als dreihundert Jahre vergangen.
HERODES: Welche sagen, der Mann sei der Prophet Elias.
EIN NAZARENER: Mir ist es sicher, dass er der Prophet Elias ist.
DER JUDE: Keineswegs, er ist nicht der Prophet Elias.
DIE STIMME DES JOCHANAAN: Siehe, der Tag ist nahe, der Tag des
Herrn, und ich höre auf den Bergen die Schritte Dessen, der der Erlöser der Welt
sein wird.
HERODES: Was soll das heißen: der Erlöser der Welt?
TIGELLINUS: Es ist ein Titel, den Cäsar führt.
HERODES: Aber Cäsar kommt nicht nach Judäa. Erst gestern hatte ich Briefe
von Rom. Es stand nichts von dieser Sache darin. Und Ihr, Tigellinus, Ihr wart ja
den Winter über in Rom. Ihr habt nichts von dieser Sache gehört, was?
TIGELLINUS: Herr, ich habe nichts von der Sache gehört. Ich wollte bloß
den Titel erklären. Es ist einer von Cäsars Titeln.
HERODES: Aber Cäsar kann nicht kommen. Er wird zu sehr von der Gicht
geplagt. Es heißt, seine Füße seien wie die eines Elephanten. Es sprechen auch
politische Erwägungen mit. Wer Rom verlässt, hat Rom verloren. Er wird nicht
kommen. Indessen, Cäsar ist der Herr, er wird kommen, wenn es ihm so beliebt. Trotz-
dem glaube ich, er wird nicht kommen.
ERSTER NAZARENER: Herr, die Worte, die der Prophet sprach, haben sich
nicht auf Cäsar bezogen.
HERODES: Wie? Nicht auf Cäsar bezogen?
ERSTER NAZARENER: Nein, Herr!
HERODES: Auf wen bezogen sie sich denn?
ERSTER NAZARENER: Auf den Messias, der gekommen ist.
EIN JUDE: Der Messias ist nicht gekommen.
ERSTER NAZARENER: Er ist gekommen und allenthalben thut er Wunder!
HERODIAS: Oho! Wunder! Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe ihrer zu
viele gesehen. (Zu dem Pagen): Meinen Fächer.
ERSTER NAZARENER: Der Mann thut wirkliche Wunder. Zum Beispiel hat
er bei einer Hochzeit, die in einer kleinen Stadt in Galiläa stattfand, Wasser in
Wein
verwandelt. Zuverlässige Leute, die dabei waren, haben es mir berichtet. Ferner
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 201, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0201.html)