Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 203
Text
HERODIAS: Wahrhaftig, es ist schändlich!
DIE STIMME DES JOCHANAAN: Es ist so, dass ich alle Verruchtheit von
der Erde austilgen werde, und dass alle Weiber lernen werden, nicht auf den Wegen
ihrer Greuel zu wandeln.
HERODIAS: Du hörst, was er gegen mich sagt? Du duldest es, dass er Die
schmähe, die dein Weib ist!
HERODES: Er hat deinen Namen nicht genannt.
HERODIAS: Was thut das zur Sache? Du weißt wohl, dass ich es bin, die
er zu schmähen sucht. Und ich bin dein Weib — oder nicht?
HERODES: In der That, theure und vieledle Herodias, du bist mein Weib,
und zuvor warst du das Weib meines Bruders.
HERODIAS: Nämlich, du rissest mich aus seinen Armen.
HERODES: In der That war ich stärker als er Aber wir wollen von
dieser Sache nicht reden. Ich wünsche nicht, davon zu reden. Es handelt sich um
die schrecklichen Worte, die der Prophet gesprochen hat. Am Ende bedeuten diese
Worte, dass Schlimmes geschehen wird. Wir wollen von dieser Sache nicht reden.
Edle Herodias, wir sind gegen unsere Gäste nicht aufmerksam. Füll’ du mein Glas,
Vielgeliebte. He! füllt die großen Pocale von Silber und die großen Pocale von Glas
mit Wein. Ich will auf Cäsar trinken. Es sind Römer hier, wir müssen auf Cäsar
trinken!
ALLE: Cäsar! Cäsar!
HERODES: Siehst du nicht, wie blass deine Tochter ist?
HERODIAS: Was kümmert es dich, ob sie blass ist oder nicht?
HERODES: Nie habe ich sie so blass gesehen.
HERODIAS: Du brauchst sie nicht anzusehen.
DIE STIMME DES JOCHANAAN: Es kommt ein Tag, da wird die Sonne
finster werden wie ein schwarzes Tuch, und der Mond wird werden wie Blut, und
die Sterne des Himmels werden auf die Erde fallen wie unreife Feigen vom Feigen-
baum, und die Könige der Erde werden erzittern.
HERODIAS: Haha! Den Tag möcht’ ich sehen, von dem er spricht, wenn der
Mond wie Blut wird und die Steine wie unreife Feigen zur Erde fallen. Dieser
Prophet schwatzt wie ein Betrunkener aber ich kann den Klang seiner Stimme
nicht ertragen. Ich hasse seine Stimme. Befiehl ihm, er soll schweigen.
HERODES: Ich will nicht. Ich kann nicht verstehen, was das sein soll, wovon
er spricht, aber vielleicht ist es ein Zeichen.
HERODIAS: Ich glaube nicht an Zeichen. Er spricht wie ein Betrunkener.
HERODES: Kann sein, er ist trunken vom Weine Gottes.
HERODIAS: Was ist das für ein Wein, der Wein Gottes? Auf was für Wein-
bergen ist er gewachsen? In welcher Kelter findet man ihn?
HERODES (sieht von diesem Augenblicke ab fortwährend Salome an): Tigellinus,
als Ihr jüngst in Rom wart, sprach der Kaiser mit Euch über ?
TIGELLINUS: Worüber, Herr?
HERODES: Worüber? Ach, ich fragte Euch etwas, nicht? Ich habe ver-
gessen, was ich Euch fragen wollte
HERODIAS: Du fängst wieder an, meine Tochter anzusehen. Du sollst sie
nicht ansehen. Ich habe es schon gesagt.
HERODES: Du sagst nichts anderes.
HERODIAS: Ich sage es nochmals.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 203, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0203.html)