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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 221

Text

GORKIJ: DIE ISERGIL.

stand damals in der Nähe von Warschau,
im Walde.

Als ich ankam, erfuhr ich, dass die
Eurigen ihn bereits geschlagen und dass
er in einem Dorf in der Nähe in Kriegs-
gefangenschaft gerathen sei. Wirst ihn
nicht wiedersehen, dachte ich. Ich wollte
ihn aber wiedersehen! Nun und da
begann ich mich darum zu bemühen
Verkleidete mich als lahme Bettlerin,
schminkte mein Gesicht und zog in das
Dorf, wo er war. Überall Kosaken und
Soldaten Wurde mir nicht leicht ge-
macht! Ich erfuhr, wo die Polen lagen
und sah bald, dass es schwer war, zu
ihnen durchzudringen. Hin musste ich
aber! Und so kroch ich nachts an den
Ort, wo sie waren. Kroch den Zaun ent-
lang, zwischen den Reihen hindurch und
sehe: da steht eine Schildwache auf dem
Wege Dabei konnte ich schon hören,
wie die Polen sangen und laut sprachen!
Sangen ein Lied an die Mutter Gottes
und er sang auch mit, mein Arkadjek!
Mir wurde bitter zu Muthe, als ich daran
dachte, wie man früher zu mir hin-
gekrochen Jetzt dagegen war die Zeit
gekommen, wo ich selbst wie eine
Schlange auf der Erde zu einem Manne
kroch. Und dabei gieng ich vielleicht in
meinen Tod. Die Schildwache hatte mich
schon gehört und eilte vorwärts. Was
sollte ich machen? Ich stand vom Boden
auf und gieng heran. Hatte kein Messer,
nichts als meine Hände und meine Zunge.
That mir Leid, dass ich kein Messer mit-
genommen Ich flüsterte also: So wart’
doch! — Aber er, der Soldat, hat mir schon
das Bajonnett auf die Kehle gesetzt. — Ich
sagte zu ihm im Flüsterton: Stich nicht zu,
wart’ doch! Hör’, wenn du eine Seele im
Leibe hast! Ich kann dir nichts geben,
aber ich bitte dich Er ließ die Flinte
sinken und sprach ebenso im Flüsterton:
Geh’ weg, Weib, geh’ weg! Was willst
du hier! — Ich sagte ihm, mein Sohn
sei hier eingesperrt: „Verstehst du,
Soldat, mein Sohn! Du bist doch auch
jemandes Sohn! Also sieh’ mich an, ich
habe gerade einen solchen Burschen wie
du, und der ist dort! Lass’ mich zu ihm, viel-
leicht stirbt er bald Und vielleicht
wirst du selbst morgen todtgeschossen
Wird deine Mutter um dich weinen! Ist

es dir nicht schwer, zu sterben, ohne sie,
die Mutter, noch einmal gesehen zu haben?
Wird meinem Sohne ebenfalls schwer.
Hab’ Erbarmen mit dir, mit ihm, mit mir,
der Mutter!“ — Ach, wie lange redete ich
auf ihn ein! Der Regen fiel und durchnässte
uns; der Wind heulte und brüllte und
stieß mich bald gegen den Rücken und
bald gegen die Brust. Ich stand und
taumelte hin und her vor diesem steinernen
Soldaten Er sagte einfach: Nein!
Und jedesmal, wenn ich sein kaltes Nein!
hörte, flammte umso heißer der Wunsch
in mir auf, den Arkadjek zu sehen
Ich redete und maß den Burschen mit
Blicken — er war klein, hager und hustete
beständig. Plötzlich fiel ich vor ihm auf
den Boden, umschlang seine Knie, bat
ihn fortwährend mit heissen Worten und
zog ihn dabei auf die Erde. Er fiel in
den Schmutz. Da drehte ich ihn schnell
mit dem Gesichte um und drückte seinen
Kopf in eine Pfütze, damit er nicht schreie.
Er schrie auch nicht, sondern zappelte
nur fortwährend und bemühte sich, mich
von seinem Rücken abzuschütteln.

Ich aber presste seinen Kopf mit beiden
Händen tiefer in den Schmutz, und er
erstickte Dann stürzte ich zum Schuppen,
wo die Polen sangen. Arkadjek! flüsterte
ich durch eine Spalte in der Wand. Sind
hellhörig, diese Polen! Sobald sie mich
vernommen, unterbrachen sie ihren Ge-
sang. Dann sah ich seine Augen vor den
meinigen. Kannst du hinaus? fragte ich. —
Ja, durch den Fußboden, sagte er. — Nun,
dann komm’! — Da krochen ihrer Viere
aus dem Schuppen, mein Arkadjek und
drei andere. — Wo ist der Posten? fragte
Arkadjek. — Da liegt er! Und sie
giengen leise, auf den Boden gebückt, zu
der Stelle, wo der Soldat lag; und als sie
vorüberkamen, beschimpften sie ihn und
Arkadjek nahm das Gewehr und durch-
stach den Rücken des Soldaten mit dem
Bajonnett. Der Regen goss immer stärker
herab und der Wind heulte laut Wir
schritten zum Dorfe hinaus und giengen
lange schweigend durch den Wald. Schnell
eilten wir vorwärts. Arkadjek hielt mich
an der Hand, die seinige aber war heiß
und zitterte. Ach! mir war so wohl
bei ihm, solange er schwieg. Es waren
die letzten schönen Augenblicke!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 221, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0221.html)