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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 220

Text

GORKIJ: DIE ISERGIL.

»In Polen war es langweilig. Sind
kalte, verlogene Menschen, die dort wohnen.
Ich konnte ihre Schlangensprache nicht
verstehen. Alle Welt zischt dort
Warum aber? Gott hat ihnen diese
Schlangensprache gegeben, weil sie ver-
logen sind! Ich zog damals umher, ohne
zu wissen, wohin, und sah, wie die Polen
darangiengen, gegen die Russen auf-
zustehen. Endlich kam ich in die Stadt
Bochnia. Ein Jude kaufte mich, nicht für
sich selbst, sondern, um mit mir ein Ge-
schäft zu machen. Ich willigte ein. Wenn
man leben will, muss man irgendetwas
verstehen. Ich verstand nichts und be-
zahlte dafür mit mir selbst. Aber ich
dachte schon damals daran, wenn ich
etwas Geld zusammenbekäme, diese Ketten
zu zerreißen und in meine Heimat am
Berlat zurückzukehren So lebte ich
dort. Es besuchten mich viele reiche
Herren und zechten mit mir. Das kam
ihnen aber theuer zu stehen! Geriethen
meinetwegen in Streit und entzweiten sich.
Einer von ihnen umwarb mich lange und
stellte einst Folgendes an: Er trat ein,
und hinter ihm gieng ein Diener mit
einem Sack. Dann nahm der Herr diesen
Sack in die Hand und schüttete ihn über
meinem Kopfe aus. Da rieselten mir viele
Goldstücke über das Gesicht. Machte mir
Vergnügen, ihren Klang zu hören, als sie
auf den Fußboden fielen; den Herrn aber
jagte ich fort. Er hatte ein dickes, feuchtes
Gesicht und einen Bauch wie ein großes
Kissen. Sah aus wie ein gemästetes Schwein!
Ja, ich trieb ihn fort, obgleich er sagte,
er hätte all sein Land, sein Haus und
seine Pferde verkauft, um mich mit Gold
zu überschütten. Ich liebte damals einen
stattlichen Herrn mit vielen Schmarren.
Sein ganzes Gesicht war von den Türken
kreuz und quer zersäbelt, mit denen er
sich Griechenlands wegen kurz vordem
herumgeschlagen hatte. Das war ein Mann!
Was scherten ihn die Griechen, wo er
doch ein Pole war? Aber er zog hin und
kämpfte an ihrer Seite gegen die Feinde.
Die zerhackten ihn; von den Säbelhieben
floss ihm ein Auge aus, und zwei Finger
an der linken Hand wurden ebenfalls ab-
gehauen Was giengen ihn die Griechen
an, wo er doch ein Pole war! Aber er
war nun einmal so, er liebte Thaten, und

wenn jemand Thaten liebt, wird er sie
immer auszuführen suchen und wird auch
Gelegenheit dazu finden Dieser zerhackte
Pole war ein braver Mensch und bereit,
bis ans Ende der Welt zu marschieren.
Sicher haben die Eurigen ihn während
des Aufstandes erschlagen! Doch, warum
seid ihr ausgezogen, um gegen die Ungarn
zu kämpfen? Nun — schweig’ schon! «

Nachdem die alte Isergil mir befohlen,
zu schweigen, verstummte sie plötzlich
selbst und dachte nach.

»Ich habe auch einen Ungarn geliebt.
Der gieng eines Tages von mir fort — es
war im Winter — und erst im Frühling,
als der Schnee schmolz, fand man ihn
im Felde mit durchschossenem Kopf.
Siehst du! So bringt die Liebe nicht
weniger Menschen um als die Pest! Wovon
sprach ich noch? Von Polen. Ja, da habe
ich mein letztes Spiel gespielt! Traf einst
einen Schlachzizen der war hübsch
wie der Teufel! Ich aber war schon alt
an die vier Jahrzehnte, glaube ich. Er war
kühn und dazu von uns Weibern verwöhnt.
Das ist mir theuer zu stehen gekommen
Er wollte mich stracks hinnehmen, aber
ich ergab mich nicht. Bin niemals eine
feige Sclavin gewesen! Mit dem Juden
war ich schon auseinander; hatte ihm
viel Geld eingebracht Ich lebte in
Krakau und besaß alles: Pferde, Geld und
Dienerschaft. Er kam zu mir, der stolze
Teufel, und wollte, dass ich mich ihm an
den Hals werfen sollte. Wir kämpften
miteinander, ja! Ich weiß noch, dass
ich davon sogar krank wurde Das
zog sich lange hin. Einst bekam ich einen
Anfall — er lag auf den Knien vor mir
und flehte — da gab ich nach. Kaum
hatte er mich aber hingenommen, so verstieß
er mich auch schon. Da merkte ich, dass
ich alt wurde Ach! das war nicht
angenehm! Ich liebte ihn, diesen Teufel;
er aber lachte über mich, wenn er mit
mir zusammentraf War ein Schuft!
Auch vor anderen lachte er über mich
und ich erfuhr das alles! War für mich
recht bitter. Aber ich stand trotzdem in
Liebesverkehr mit ihm. Und als er auszog,
um mit euch Russen zu kämpfen, wurde
mir weh ums Herz. Ich nahm mich zu-
sammen, konnte mich aber nicht bezwingen
und beschloss, hinter ihm herzuziehen. Er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 220, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0220.html)