Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 219

Text

GORKIJ: DIE ISERGIL.

will. — Schön. — Und ich zog mit. War ein
reicher Mann, der Türke. Hatte auch einen
Sohn, einen schwarzhaarigen Knaben,
schlank und biegsam war sechzehn
Jahre alt. Mit dem lief ich dem Türken
davon floh nach Bulgarien, nach Lom
Palanka Da stieß mir eine Bulgarin
ihr Messer in die Brust, wegen ihres
Liebsten oder Mannes — das weiß ich
nicht mehr «

»Lange Zeit lag ich im Kloster, allein,
krank War ein Frauenkloster. Mich
pflegte ein Mädchen, eine Polin Und
zu ihr kam bisweilen aus einem anderen
Kloster in der Nähe von Azer Palanka ihr
Bruder, ebenfalls ein Mönch War wie
ein Wurm, der sich beständig vor mir
krümmte Als ich genesen, gieng ich
mit ihm nach Polen «

»Wart’ doch! Wo blieb denn der
kleine Türke?«

»Der Knabe? Er starb, der Kleine.
Vor Heimweh oder vor Liebe Bekam
die Auszehrung. War ein schwaches
Bäumchen, über das zuviel Sonne ge-
kommen Da vertrocknete es Ich
weiß noch, wie er dalag, schon ganz
durchsichtig und bläulich wie eine Eis-
scholle; aber die Liebe brannte noch
immer in ihm. Immer bat er mich, mich
über ihn zu beugen und ihn zu küssen
Ich liebte ihn sehr und hab’ ihn viel ge-
küsst Dann gieng es ihm sehr schlecht;
er bewegte sich fast nicht mehr. Lag da
und bat mich jämmerlich, wie ein Bettler
um Almosen fleht, ich sollte mich zu ihm
legen und ihn wärmen. Ich that es. Wenn
ich bei ihm lag, stand er mit einemmale
in Flammen. Als ich eines Morgens er-
wachte, war er schon kalt todt. Ich
beweinte ihn Vielleicht habe ich ihn
umgebracht — wer kann das sagen?
Doppelt so alt wie er war ich damals
schon, und war zudem stark und saftig
Aber er? Ach, der arme Bursche! «

Sie seufzte und — was ich zum ersten-
mal an ihr sah — bekreuzigte sich dreimal,
wobei sie mit den trockenen Lippen etwas
flüsterte.

»Nun?« kam ich ihr zu Hilfe, als sie
wieder schwieg, »hast dich also nach
Polen aufgemacht «

»Ja, mit dem kleinen Polen. Er war
lächerlich und dazu ein Schuft. Wenn er
ein Weib nöthig hatte, schmeichelte er
wie eine Katze und von seiner Zunge floss
süßer Honig. Wenn er mich aber nicht
brauchte, peitschte er mich mit Worten
wie mit der Knute. Einst giengen wir am
Flussufer entlang. Da sagte er mir wieder
seine frechen, kränkenden Worte! O, wurde
ich wüthend! Kochte auf wie Harz!
Nahm ihn am Arm wie ein Kind — er
war nur klein — hob ihn hoch und stieß
ihn in die Seite, dass er ganz blau wurde.
Dann schwenkte ich ihn hin und her und
warf ihn vom Ufer in den Fluss. Er schrie
gewaltig lächerlich, wie er schrie!
Ich sah vom Ufer aus zu, wie er im
Wasser zappelte. Dann gieng ich fort
und bin ihm nicht wieder begegnet.
Darin hatte ich Glück: bin denen, die ich
früher geliebt, nie wieder begegnet. Ist
ein unangenehmes Zusammentreffen —
gerade wie mit Verstorbenen!«

Die Alte verstummte und seufzte. Ich
stellte mir im Geiste die Personen vor,
die sie wieder ins Leben gerufen hatte.
Da war er, der feuerrothe, schnurrbärtige
Huzule, der, ruhig seine Pfeife rauchend,
in den Tod gieng: stark, entschlossen,
klein Er hatte sicher kalte, blaue
Augen, die jedermann starr und fest an-
blickten. Neben ihm der Fischer vom Pruth
mit schwarzem Schnurrbart; er weint, will
nicht sterben und in seinem vor Todesfurcht
blassen Gesicht trüben sich die sonst so
lustigen Augen, und der thränenfeuchte
Schnurrbart hängt von den verzerrten
Mundwinkeln traurig herab Dann
kommt er, der alte, wichtige Türke,
sicher ein Fatalist und Despot, und neben
ihm sein Sohn: eine blasse, zarte Blume
des Orients, die durch Küsse vergiftet ist.
Und darauf der prahlerische Pole, galant
und grausam, beredt und gierig Und
sie alle sind nur blasse Schemen Die
aber, die sie geküsst, sitzt lebendig, doch
von der Zeit ausgetrocknet, ohne Fleisch
und Blut, mit einem Herzen ohne Wünsche,
mit Augen ohne Feuer neben mir — auch
fast ein Schatten.«

Ich hatte das Gefühl, dass ihre Er-
zählung von grausamer Ironie durch-
drungen war Sie aber fuhr fort, zu
reden:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 219, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0219.html)