Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 222

Die Isergil II. Die platonische Liebe I. (Gorkij, MaximNeera)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 222

Text

NEERA: DIE PLATONISCHE LIEBE.

Dann kamen wir auf eine Wiese und
machten Halt. Sie dankten mir alle Vier.
Ach wie lange redeten sie mit mir! Ich
hörte zu und sah fortwährend meinen
Herrn an. Was würde er mit mir machen?
Und da umarmte er mich und sprach so
wichtig Ich weiß nicht mehr, was
er sprach, aber es lief darauf hinaus, dass
er mich jetzt aus Dankbarkeit dafür, dass
ich ihn befreit, lieben würde. Und
er fiel vor mir auf die Knie, lächelte und
sagte: „Meine Königin!“ Ein so verlogener
Hund war er! Nun, ich gab ihm
einen Fußtritt und würde ihn ins Gesicht
geschlagen haben, aber er wankte zurück
und sprang auf. Drohend und blass stand
er vor mir. Auch die drei anderen
standen da, alle finster und schweigend.
Ich sah sie an Mir wurde damals —
das weiß ich noch — traurig zu Muthe
und Trägheit überkam mich, kalte Träg-
heit. Ich sagte zu ihnen: Geht! — Sie
aber, die Hunde, fragten mich: Dann
kehrst du um und gibst ihnen unseren
Weg an? — Solche Schufte waren es! Nun,
sie giengen dennoch fort. Dann gieng auch
ich Am nächsten Tage aber nahmen
mich die Eurigen fest, doch ließen sie mich
bald wieder frei. Da sah ich, dass es für
mich an der Zeit sei, mir ein Nest zu

bauen; mit dem Kuckucksleben war es
jetzt vorbei. Ich war schwerfällig geworden
und die Schwingen schwach und das Ge-
fieder trübe Es war Zeit, Zeit! Da
zog ich nach Galizien und von dort nach
Dobrudscha, und jetzt lebe ich schon an
die drei Jahrzehnte hier, allein nein,
nicht allein, sondern mit denen da «

Die Alte deutete mit der Hand nach
dem Meere. Dort war alles still. Bisweilen
ertönte ein kurzer, unbestimmter Ton und
erstarb alsbald wieder.

»Sie haben mich gern. Ich erzähle
ihnen viele Geschichten. Das ist ihnen
Bedürfnis. Sind alle noch jung, und mir
ist wohl bei ihnen, denn ich denke: auch
du warst einmal ebenso Nur hatten
damals die Menschen mehr Kraft und
Feuer, und so lebte es sich fröhlicher und
besser Ja! «

Und sie verstummte. Ich sah sie lange
unverwandt an. Mir wurde traurig neben
ihr. Sie aber träumte, schüttelte den Kopf
und flüsterte leise, leise etwas betete
vielleicht In der Steppe war es still
und dunkel. Am Himmel glitten Wolken
entlang, langsam, langweilig Das
Meer rauschte dumpf und traurig. Die alte
Isergil schlief fest Vielleicht er-
wachte sie nie wieder.

DIE PLATONLSCHE LIEBE.
Von NEERA (Mailand).

In seinem Vorwort zum »Convito«
macht Ruggero Bonghi darauf aufmerk-
sam, dass die »platonische Liebe« wahr-
scheinlich in Frankreich zum erstenmale
so genannt wurde, ohne dass man wusste,
von wem und warum, denn Plato hatte
nie an irgendetwas Ähnliches zwischen
Mann und Weib gedacht und war in
seinen Idealen von Punkten ausgegangen,
die wir hier nicht zu erörtern haben, die
aber jedenfalls das Weib ausschließen, das
von den Griechen als zu untergeordnet be-
funden wurde, als dass man sich mit ihm

bis zur Betrachtung der rein geistigen
Schönheit aufgeschwungen hätte. Allerdings
hält bei Bonghi ein Weib, Diotima, die
schönste Rede über die Liebe, aber sie thut
es auf sinnlicher Basis, während bei Plato
die Liebe so idealisiert wird, dass sie in der
mannigfachen Sphäre des Guten, des
Schönen und Wahren die verschieden-
sten, erhabensten und reinsten Gegen-
stände sucht und darin ihren Stützpunkt
findet. Diese Sehnsucht nach übersinnlicher
Liebe wurde von Plato in die lebens-
frohe Welt der Griechen eingeführt;

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 222, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0222.html)