Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 224

Die platonische Liebe I. Wie gelangen wir zu einer heroischen Weltanschauung? (NeeraKuhlenbeck, Ludwig, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 224

Text

KUHLENBECK: WIE GELANGEN WIR ZU EINER HEROISCHEN WELTANSCHAUUNG?

Die griechische Dichtung weist folgende
Strophe auf:

Du gleichst der süßen Frucht, die hoch erhoben
Sich röthet einsam an des Astes Ende;
Zu äußerst an der Spitze prangt sie droben,
Nicht überseh’n — zu hoch nur für die Hände.

Wer weiß jene Liebe zu würdigen,
die für die Hände zu hoch ist? Solche
Liebesfälle sickern im lärmenden, äußeren
Leben ein und bilden einen unsicht-
baren, tiefen und so verdichteten Theil
desselben, dass nur die seltenen, mit
Seherkraft begabten Geister langsam gleich
Tauchern auf jene Gründe kommen und
aus den unbekannten Regionen die ver-
borgenen Kostbarkeiten an die allen zu-
gängliche Oberfläche bringen.

An Dante mögen alle jene denken,
die da glauben, dass die Liebe nur in einer
Umarmung bestehe; und an Francesco
von Assisi
— auch einer, der durch-
aus nicht »naiv« war — jenen Meister
der Liebe, der in Chiara seine würdige
Gefährtin fand. Gibt es jemanden, der
je den glühenden Moment ausdachte,
in dem das edle, bräutlich gekleidete

Mädchen verstohlen in der süßen Früh-
lingsnacht der umbrischen Landschaft nach
Santa Maria degli Angeli zog, um das
Gewand ihres Freundes anzulegen und
die herrlichen Haare der Schere darzu-
bieten, die Francesco selbst in die jugend-
liche Haarfülle führte?

Haben die toscanischen, mit Wein
bewachsenen Hügel, auf denen Boccaccio
Fiammetta liebte, je einen süßeren Schauer
gekannt als jenen, der den kleinen Garten
und die bleichen Schatten von San Da-
miano während all der Jahre durchwehte,
in denen Chiara dort nahe dem rein er-
glühenden, armen Francesco wohnte? —
Kommt nur nicht, um mir zu sagen,
dass derartige Liebe unfruchtbar und
daher unnütz sei! Nicht nur Kinder
werden gezeugt. Wenn uns diese Liebe
Gedichte und Heilige, Religionen und
neue Ideale schenkt, können wir sie wohl
der unüberlegten Regung vorziehen (oder
doch wenigstens gleichstellen), die der
Welt unter einigen wirklichen Menschen
eine unberechenbare Menge von Halb-
thieren beschert!

(Schluss im nächsten Heft.)

WIE GELANGEN WIR ZU EINER HEROISCHEN WELT-
ANSCHAUUNG?
Ein Beitrag zur Psychologie und Kritik der Erkenntnis als Vorwort zu weiteren gedanklichen
Bausteinen einer heroischen Weltanschauung.
Von DR. LUDWIG KUHLENBECK (Jena).

In unseren Tagen ist der alte Satz:
»Ein Mensch sein heißt ein Kämpfer
sein« wohl mehr als jemals zuvor der
allgemeinsten Anerkennung sicher. Die
Lehre vom Kampf ums Dasein ist
sogar zu einem recht verdrießlichen Ge-
meinplatz entwertet, gegen dessen Miss-
brauch einzutreten hin und wieder größeren

Muth erfordern mag, als es Geist zu ver-
rathen scheint, diesen Gemeinplatz zum
Ausgangspunkt denkerischer Betrachtungen
und Verständigungsversuche zu nehmen.
Denn augenscheinlich läuft das moderne
Geschlecht Gefahr, mit dieser Phrase einer
sittlichen Verrohung das Wort zu reden,
deren bedenkliche Folgen sich bereits auf

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 224, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0224.html)