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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 229

Text

KUHLENBECK: WIE GELANGEN WIR ZU EINER HEROISCHEN WELTANSCHAUUNG?

und nur ursachlich durch an sich ganz
anders beschaffene »Qualitäten«, durch
Bewegungen, Schwingungen eines bloß
hypothetischen
Stoffes in uns hervor-
gerufen werden, weiß heutzutage schon
der Primaner aus seinen physikalischen
Stunden. — Auch uns also, die wir nach einer
heroischen Weltanschauung ringen,
ist die Wahrheit der Maßstab, der
leitende Gedanke bei allen denkerischen
Bemühungen, »die einzige Speise des
Geistes«, sagt Giordano Bruno (»Eroici
furori«, II., 2., Wagner, S. 406), »das,
was er immerfort ersehnt, sucht und zu um-
fassen begehrt, was ihm besser schmeckt
als alles andere, was ihn sättigt, was er
sich aneignet und wodurch er besser
wird
, das ist die Wahrheit, nach
welcher der Mensch zu jeder Zeit, in
jedem Lebensalter streben muss und um
derentwillen er jede Mühe gering
achtet
, jedes Studium versucht
und sich wenig aus dem Körper
und seinem Wohle macht
, ja sogar
das Leben selbst nicht achtet

Aber es versteht sich, dass für uns
die Wahrheit auch ein Wertbegriff ist,
also mehr als die wertlose Verdoppelung
irgendwelcher schon an sich wertloser
Realitäten.

Die heroische Weltanschauung will
nichts anderes, als diejenige Vorstellung
von unserem eigenen Sein und dem
Gesammtsein erzeugen, die mit einer
heroischen Lebensführung nicht
nur vereinbar ist, sondern sie auch unter-
stützt oder gar gewährleistet, indem sie
gleichermaßen den Verstand und das Ge-
müth befriedigt und die Energie des
Wollens belebt
. Dass sie sich im
Kampfe nicht nur mit anderen Meinungen,
sondern, was wichtiger ist, im Kampfe
unseres Lebens bewährt, und zwar nach
allen drei Richtungen unseres seelischen
Seins, also des Denkens, Fühlens und
Wollens, dies ist das einzige Kriterium
der Wahrheit, das sie gelten lässt.

Der wahrste Satz in dem übrigens so
klosterhaft und scholastisch beengten,
rein intellectualistischen Gedankensystem
des Ideologen Fichte ist der: »Was für
eine Philosophie man wähle, hängt davon
ab, was für ein Mensch man ist!« Dieser
Satz bestätigt unseren »erkenntnis-theo-

retischen« Ausgangspunkt, wonach der
Mensch sehen wollen muss, um recht
zu sehen.

Wenn die Leser dieser Zeitschrift an
dieser Einsicht Gefallen finden, so hoffe
ich ihnen noch einzelne gedankliche Bau-
steine zu einer heroischen Weltanschauung,
wie wir Söhne des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts, der Zeit, da
der Kampf ums Dasein zum bewussten
Grundsatz gegenüber einer heuchlerisch
entwerteten Dogmatik der Menschen-
liebe sich entwickelt hat, deren be-
nöthigen, liefern zu dürfen, und schließe
diese »erkenntniskritische« Ouverture mit
folgenden Sätzen eines Denkers, der mehr
als ein bloßer Denker, der ein Geistes-
held gewesen ist, in denen ich meine
praktische Auffassung vom Wesen der
Wahrheit vorausgesetzt finde:

»Die Wahrheit«, sagt Giordano Bruno
in der Vorrede zur Fackel der 30 Statuen,
»ist die Speise der Seele, da sie um-
gewandelt werden will in deren Wesen,
gleichwie ein dem letzteren eigens be-
stimmtes Nahrungsmittel.

Die Auffindung der Einzelheiten ist
gewissermaßen das erste Ergreifen der
Speise, die Vergleichung derselben in den
inneren Sinnen der Verdauungsvorgang, der
vollkommene Begriff aber die endgiltige
Assimilation (Aneignung) der in unserem
derzeitigen Zustande
vollkom-
mensten Einsichten, zu denen, als
zur männlichen Geistesreife und
vollendeten Charakter-Consistenz
,
alle, die von Natur nach Wissen streben,
zu gelangen wünschen. Nur, wer eine
solche Lebenshaltung führt und sich mit
solcher Nahrung stärkt, hat offenbar die
geeignete Verfassung, um durch Geistes-
werke in Kunst und Wissenschaft Fort-
schritte zu erzielen. Denn aus dem Ver-
such und der Erfahrung entspringt Wissen-
schaft und Kunstfertigkeit, aus Trägheit
und Unerfahrenheit aber Zufälligkeit und
Abhängigkeit vom blinden Glück.

Wenn dem so ist, so müssen wir eine
Kunst erstreben, die uns einerseits von
dem großen Haufen
derjenigen, die
blindlings umhertappen, unterscheidet,
ohne darum andererseits den Theore-
tikern und Methodikern auf ihre
schlüpfrigen, unwegsamen und nicht im

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 229, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0229.html)