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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 228

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KUHLENBECK: WIE GELANGEN WIR ZU EINER HEROISCHEN WELTANSCHAUUNG?

um sich zu behaupten; die Natur kennt
keinen Überfluss bei ihren Kraftmitteln,
sie arbeitet stets in der Richtung des ge-
ringsten Widerstandes. Auch widerlegt
sich der Schopenhauer’sche Satz durch seine
zu Verneinung des Lebens führen-
den pessimistischen Folgerungen. Der
philosophische Intellect soll die Rolle des
selbstmörderischen Stachels des Scorpions
spielen. (Bekanntlich soll ein von feurigen
Kohlen umgebener Scorpion, wenn er
keinen Ausweg findet, sich mit seinem
Stachel den Kopf durchbohren.) Dieser
Schopenhauer’sche Satz ist aus einer, wie
wir erkannt haben, unzulässigen Abstraction
des Denkens vom Fühlen und Wollen
hervorgegangen, aus einer Ablösung des
Denkens von seiner Wurzel, die man von
einem Denker, der im Willen das moni-
stische Grundprincip, also auch die Wurzel
des Fühlens und Denkens sieht, am
wenigsten hätte erwarten sollen.

Freilich, diesen Irrthum, das einseitige
Denken, sozusagen das eindimensio-
nale seelische Sein zum ausschließlichen
Organ des Wahrheitsstrebens zu stempeln,
theilt Schopenhauer mit vielen anderen,
ja den meisten der bisherigen »Welt-
weisen«, die es daher auch alle nicht zu
Weltanschauungen gebracht haben, die
sich im Kampfe mit dem Leben und im
Kampfe untereinander bewährt, d. h.
bewahrheitet hätten, — die einseitig
intellectualistische Philosophie der
Stubendenker hat bislang nichts als
Jasons Drachenzähne gesäet, aus denen
zwar oft wahre Gedankenriesen er-
wuchsen, allein alle diese Gedanken-
riesen schlugen sich gegenseitig selber
todt.

Schon der rein intellectualistische Be-
griff der Wahrheit, den alle diese Philo-
sophen theilen, hätte sie bei genauer
Zergliederung seines Vorstellungs-Inhaltes,
wenn nicht von der Unmöglichkeit, so
doch von der Unzulänglichkeit eines
bloß vorstellenden Denkens als Er-
kenntnismittels überzeugen sollen.
Nach diesem rein intellectualistischen Be-
griffe ist nämlich Wahrheit nichts anderes
als eine subjective Verdoppelung, eine bloße
Spiegelung des objectiven Seins. Man
meint nun, dass der Spiegel getrübt werde
durch jede Einmischung des Fühlens und

Wollens in seine Substanz. Aber Fühlen
und Wollen sind doch unstreitig
Elemente der Wirklichkeit
. Man
kann also die Wirklichkeit auch in der
bloßen Vorstellung und Anschauung nur
soweit verstehen, »wiederspiegeln«, als
man sie wenigstens annähernd wiederzu-
erzeugen vermag. Der Farbenblinde kann
nicht die Welt der Farben, der Taube
nicht die Welt der Töne erfassen. Dies
ist der Sinn des von Goethe aus Plotins
Enneaden entlehnten Verses:

»Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnt’ das Auge diese Sonne schauen!«

Es ist auch der Sinn der noch wunder-
licher erscheinenden Verse des Empe-
dokles:

»Erde erkennen wir durch Erde,
Wasser durch Wasser,
Den göttlichen Äther durch Äther,
Durch Feuer das leuchtende Feuer.«

Mit einem Worte: Der Mensch muss
zum Mikrokosmos werden, um den Makro-
kosmos zu begreifen. Ein bloßer — oder da
es einen solchen gar nicht gibt — ein vor-
wiegender Verstandesmensch (mag
er sich auch in unserer Zeit mit Stolz als
sogenannten »Intellectuellen« bezeichnen)
ist also gar nicht imstande, den Charakter
des objectiven Seins (der Wirklichkeit),
weder den der einzelnen in ihm wurzeln-
den Wesen, noch des Gesammtseins (der
Gottheit) wiederzuspiegeln.

Dabei sehe ich noch ganz ab von
der Frage, welchen Wert eine solche
bloße Verdoppelung des objectiven Seins
durch die subjective Erkenntnis haben
könnte. Denn die Auffassung der Wahr-
heit als eines Wertbegriffes ist nicht
die derjenigen Philosophen, deren ver-
meintliche Wahrheit zur Verneinung
des Lebens führt. Dass aber jener Begriff
einer rein theoretischen (intellectualisti-
schen) Wahrheit unmöglich ist, wusste
bereits der antike Skepticismus, und die
moderne Naturwissenschaft hat es selbst
denjenigen klargestellt, deren erkenntnis-
kritisches Denken zu schwach ist, um den
sogenannten transcendentalen Idealismus
zu verstehen. Wenigstens, dass die soge-
nannten secundären Wahrnehmungen,
die Empfindungen der Farben, Töne und
Gerüche rein subjective Phänomene sind

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 228, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0228.html)