Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 244

Das Mysterium der Gerechtigkeit (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 244

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MAETERLINCK: DAS MYSTERIUM DER GERECHTIGKEIT.

keit; diese ist ihre Voraussetzung und
jene ihre Consequenz, und man findet bei
ihr infolgedessen dieselbe Gleichgiltigkeit
und Blindheit gegen die Forderungen der
Gerechtigkeit. Die moralischen Beweg-
gründe des Alkoholismus und der Aus-
schweifung mögen noch so unschuldig
oder pervers sein, die Nachkommen des
Trunkenboldes oder Wüstlings können doch
— an ihrem Geiste wie an ihrem Fleische
— in der gleichen Weise bestraft werden.
Wenn sie ein körperliches Gebrechen
haben, werden sie meistens auch ein
geistiges Gebrechen haben. Mögen sie nun
Narren, Idioten oder Epileptiker sein,
mögen sie unbezähmbare verbrecherische
Instincte haben oder nur ihr geistiges
Gleichgewicht allzuleicht verlieren, es
kommt stets auf dasselbe hinaus: die Seele
hat ebenso Schaden genommen, wie der
Körper, und die grauenhafteste moralische
Strafe, die eine überlegende Gerechtigkeit
erfinden könnte — wenn man hier auch
nur einen Augenblick von Gerechtigkeit
reden könnte — ist die Folge einer Hand-
lungsweise, die gewöhnlich weniger Schaden
stiftet und fast immer minder pervers ist,
als hundert andere Vergehen, die zu be-
strafen der Natur nie einfällt. Mehr noch:
diese Strafe wird blindlings verhängt und
ohne jede Rücksicht auf die vielleicht ent-
schuldbaren, der Moral nicht zuwiderlau-
fenden oder gar edlen Beweggründe der
betreffenden Handlung.

Ist damit indessen gesagt, dass Alko-
holismus und Ausschweifung die einzigen
Factoren der moralischen Erblichkeit wären?
In keiner Weise; es wäre dies unsinnig.
Tausend mehr oder weniger unbekannte
Factoren sprechen dabei mit. Gewisse
moralische Eigenschaften vererben sich
anscheinend in derselben Weise, wie ge-
wisse physische Eigenschaften. In jeder
Rasse finden sich fast ständig bestimmte,
wahrscheinlich erworbene Tugenden. Aber
inwieweit hängen sie von Vorbild und
Nachahmung, vom Milieu oder von der
Erblichkeit ab? Das Problem ist derartig
compliciert, die Thatsachen sind oft so
widersprechend, dass es unmöglich wird,
in dem Gewirr der zahlreichen Ursachen
der Spur einer einzelnen nachzugehen.
Es ist auch hinreichend, festzustellen, dass
sich in den wenigen klaren, sinnfälligen

und ausschlaggebenden Fällen, wo man
die Erblichkeit als Kundgebung einer ver-
borgenen Gerechtigkeit auffassen könnte,
keine Spur von Gerechtigkeit finden lässt.
Denn wenn sie sich dort nicht findet, so
wird es noch viel schwerer sein, sie wo
anders zu finden.

Wir können also nicht sagen, dass
über, um oder unter uns, in unserem
Leben oder in unserem anderen Leben,
welches das Leben unserer Kinder ist, eine
Spur von verborgener Gerechtigkeit zu
finden sei. Indessen haben wir, als wir uns
dem Dasein anpassten, den Causalitäts-
principien, denen wir am öftesten be-
gegneten, die Absichten unserer Moral
beigelegt, so dass daraus der Anschein
einer wirklichen Gerechtigkeit, welche die
meisten unserer Bewegungen belohnt oder
straft, je nachdem sie sich mit gewissen
Gesetzen der Erhaltung der Wesen decken
oder nicht, thatsächlich entstanden ist. Es
ist klar, dass, wenn ich mein Feld bestelle,
die Ernte-Aussichten im nächsten Sommer
für mich hundertmal größer sind, als für
meinen Nachbarn, der sein Feld nicht be-
stellt hat, weil er lieber in Trägheit oder
Zerstreuung lebt. Hier wird die Arbeit mit
hinreichender Sicherheit belohnt, und darum
haben wir die Arbeit zur moralischen
Handlung »an sich« und zur ersten aller
Pflichten erhoben, weil sie zur Erhaltung
unseres Lebens unerlässlich ist! Man könnte
die Beispiele dieser Art beliebig vermehren.
Wenn ich meine Kinder gut erziehe, wenn
ich gut und gerecht gegen meine Um-
gebung bin, wenn ich in allen Lebenslagen
ehrlich, fleißig, anständig, vernünftig und
besonnen bin, so habe ich mehr Aussicht
auf kindliche Liebe, Zuneigung, Achtung
und Stunden des Glücks, als jemand, der
das Gegentheil thut oder ist. Trotzdem
darf man nicht aus den Augen verlieren,
dass mein Nachbar nicht mehr ernten würde,
so fleißig und nüchtern er auch gewöhnlich
sein mag, wenn irgendein hochachtbarer
und vielleicht bewundernswerter Grund,
wie eine Krankheit, die er sich am Bette
seiner Frau oder seines Nachbars zugezogen
hat, ihn gehindert hätte, sein Getreide
zur rechten Zeit auszusäen. Es würde —
mutatis mutandis — dasselbe eintreten,
wie in den oben genannten Fällen. Aber
diese Fälle, wo ein achtbarer oder gar

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 244, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0244.html)