Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 246

Der theosophische Congress zu Paris (Arjuna van Jostenoode, Harald)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 246

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ARJUNA: DER THEOSOPHISCHE CONGRESS ZU PARIS.

mir genommen, wie sie nur alle tausend
Jahre einmal — gleich der Wunderblume
des Märchens — blüht

Die Theosophie ist so alt wie die
Welt. Es besteht eine Gemeinschaft voll-
endeter Seelen (Arhats oder Mahatmas),
die, durch ewige Liebe in Gott verbunden,
die Geschicke der Menschen lenken. Von
dieser weißen Loge geht aller Fort-
schritt aus. Alle großen Religionsstifter
gehörten ihr an. Alle Religionen sind da-
her im Grunde ein Theil der ewigen
Wahrheit. Nur die Formen sind nach
Zeit und Ort verschieden. Jedesmal, wenn
die Mahatmas die Zeit für gekommen er-
achten, senden sie einen Propheten aus,
der seinem Volke die Wahrheit kundthut.
Dies geschieht regelmäßig, wenn sich eine
neue Rasse oder Subrasse bildet. Die
ganze Geschichte beruht auf der abwech-
selnden Herrschaft dieser Subrassen. So
hatten die alten Perser ihren Zoroaster,
die Griechen ihren Orpheus, die Inder
ihren Manu u. s. w. Hinzufügen möchte
ich, dass augenscheinlich auch Wotan
nichts anderes war, als solch ein siegreich
Vollendeter, der — wie die Sage meldet —
aus Asien kam, dem Lande der Weisheit,
unsere Vorfahren mit einer reineren Form
der Gottesverehrung bekanntmachte und
dann verschwand, wie Elias oder der
erste Inka von Peru. Auch der erste
Montezuma war solch ein Mahatma.

Heute erleben wir, scheint es, abermals
das Eingreifen der Mahatmas durch die Stif-
tung der Theosophischen Gesellschaft. Aber
zum erstenmale seit der Entstehung des
Menschengeschlechtes wird keine neue
Religion begründet, vielmehr ausdrücklich
der berechtigte Kern in jeder Re-
ligion anerkannt. Dies geschieht,
damit keine Zersplitterung entstehe. Früher
hielt sich jedes Volk, dem eine neue
Religion zutheil wurde, für ein auserwähltes,
das auf Tod und Leben für diese Gottes-
verehrung kämpfte. So verachteten die
Hindus die Mlechas als unrein, die Juden
hielten sich für berufen, die Welt zu
unterjochen, die Christen sind ihnen in
dieser Anmaßung getreulich bis auf den

heutigen Tag gefolgt, und auch die Muha-
medaner predigten ihre Lehre mit Feuer
und Schwert. Die Theosophen aber wollen
keine Neuerung. Sie sagen Jedem, er sollein
seiner Glaubensgemeinschaft bleiben, er
solle nur unterscheiden lernen zwischen den
äußeren Formen derselben, dem Buch-
stabenglauben (Orthodoxismus), und dem
inneren Geiste, der hindurchleuchtet.*
Der Geist allein macht lebendig und
ist überall derselbe. Es gibt nur Einen
Geist
. Daher wird jeder Mystiker selbst
den Mystiker aus einer anderen Glaubens-
gemeinschaft leicht verstehen. Sie glauben
eben ein und dasselbe. Es kommt auf die
Ausdrücke gar nicht an. Ob man die
indischen acceptiert (ob man z. B. von
Buddhi und Atma oder vom Geiste
spricht) oder die abendländischen ge-
braucht, ist ganz Nebensache. Wer einen
gewissen Grad inneren Schauens
erreicht, begreift auch ohne Worte.

Dies ist das von Orthodoxen so vielfach
angefeindete Gefühl, das nach Goethes
bekanntem Ausspruche alles ist, das sich
aber in Worten nicht ausdrücken lässt.
Ein bestimmtes Gefühl ist stets klar, ein Wort
aber vielfachen Deutungen unterworfen. Die
ganze Aufgabe der Religion besteht nun darin,
die innere Anschauung zu erhalten.
Die modernen Kirchen aber hindern durch
ihren Formalismus diesen Aufschwung. Über-
all herrscht heute der nackte Materialismus.
Wenn z. B. auch die katholische Kirche
den Materialismus officiell verwirft, so ist doch
heutzutage der ganze Geist, der aus ihr
spricht, ein crass materialistischer. An die
Stelle des göttlichen Geistes, der weht, wo er
will, ist die sichtbare Kirche getreten —
eine unsichtbare Kirche wäre nach der An-
schauung unseres Clerus ein Nonsens. Eine
Gottesgemeinschaft bestehe, heisst es, nur da.
wo die Kirchenfahnen wehen und wohin der
Schatten des Kirchthurmes fällt. Darüber hinaus
ist das Reich der Finsternis. Und doch sollte
es in Wahrheit gerade umgekehrt sein! Die
»wahre« Kirche ist naturgemäß nur die »un-
sichtbare«, d. h. die vom heiligen Geiste ge-
leitete. Die heutige katholische aber nimmt an
ihren Gnadengaben nur insoweit theil, als sie
sich ihr durch Mystik nähert.

Nicht das objective Element, d. h. die
Autorität einer sichtbaren Kirche ist das
Wesentliche, sondern gerade das Sub-
jective, d. h. das Eingreifen der Gott-

* So kann z. B. ein Katholik das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariae u. a.
ganz gut annehmen, aber in einem anderen Sinne, als es die Orthodoxie thut. Er kann der
Messe Schritt für Schritt folgen, aber er hat ganz andere Vorstellungen als jener, der alles
nur exoterisch auf den historischen Jesus von Nazareth bezieht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 246, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0246.html)