Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 253

Die Harmonie der Sphären (Bailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 253

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BAILLY: DIE HARMONIE DER SPHÄREN.

enger aneinander, dann kann man allmählich
die folgenden Tongruppen daraus hervor-
locken: den vollstimmigen Moll-Accord
ut, mi ♭, sol, ut — den Sext-Accord ut,
mi ♭, la ♭, ut — den vollstimmigen Dur-
Accord ut, mi ♮, sol, ut — den Accord
der großen Septime ut, mi, sol, si — den
Accord der kleinen Septime ut, mi, sol, si
etc. Indes ergibt sich aus unseren Unter-
suchungen ein weit interessanterer Gedanke:
Da unser Himmel in zwei Regionen ge-
theilt ist, in eine höhere und eine tiefere,
mit dem Erdkreis als Zwischenlinie, ist es
vernunftgemäß, einen Accord zu bilden,
der die Sonne (tiefes ut), Mercur (mittleres
ut), Venus (si ♭) und die Erde (mi) um-
fasst oder — mit anderen Worten — den
Sept-Accord der Dominante des Tones fa
(ohne seine Quinte), der so lieblich ist, dass
wir uns gleichsam in die glücklichen Tage
des goldenen Zeitalters von seinen Klängen
getragen glauben. Aber leider können wir
nicht, wie die Astronomen, den wilden Mars
ausschließen, dessen si ♮ sich heftig auflehnt
wider jenes süße si ♭, das Liebe zeugt
(siehe oben: Venus- si ♭) — und so ent-
steht der Ringkampf zwischen Gewalt und
Liebe, zwischen Materie und Geist

Wir haben nun die symbolische
Harmonie
der fünf tiefen Saiten unserer
Astralen Lyra abgeleitet und müssten nun
eigentlich auch die Harmonie der fünf
höheren Saiten entwickeln. Dies würde
aber zu weit führen. Es genüge hier* der
Hinweis, dass im Bereiche dieser höheren
Lage die Moll-Tonart mit dem Accord
ut, sol, mi ♭ vorherrscht. — —

Nun könnten wir die Tonscala unserer
himmlischen Lyra aufstellen, indem wir
ihre Stimmen, die insgesammt im großen
Diagramm der Töne verstreut sind, inner-
halb der engen Grenzen einer Octave
vereinigen. Das Ergebnis wäre dieses:

UT, mi ♭, mi ♮, sol, la ♭, si ♭, si ♮, UT

Die melodische Folge dieser Ton-
leiter klingt, so fremdartig sie auch scheinen
mag, keineswegs unangenehm. Gewisse
Tonarten der Hindus zeigen uns analoge
Combinationen aus unvollständigen chro-
matischen Scalen.

Wenn ich im Laufe dieser Unter-
suchung von der stricten Parallele zwischen
der planetären und akustischen Reihe ein
wenig abgekommen bin, so liegt das an
meinem ungewöhnlichen und schwierigen
Thema, das zu dem höchsten Aufflug
antreibt und zu Abschweifungen verleitet.
Ich habe die Harmonie der Distanzen ent-
wickelt; die der Umläufe, Volumina,
Massen und Dichtigkeiten der Neben-
planeten vermögen sich dem allgemeinen
Gesetz nicht minder zu entziehen. Man
wird mir, glaube ich, aus den gering-
fügigen, kaum nennenswerten Ungenauig-
keiten in den correspondierenden Ziffern
der beiden Reihen keinen Vorwurf machen:
die Herren der Schiffahrtsämter und Obser-
vatorien wissen sehr wohl, dass sich keine
einzige einfache mathematische Aufstellung
in der Natur verwirklichen kann, in der
alles nur approximativ ist; im übrigen
ist die harmonische Zahl eine andere als
die arithmetische — niemand wird mit
mir über diese Wahrheit feilschen.

Seit vielen, vielen Jahren, inmitten, all
der Probleme, die mich beschäftigen, hält
mich das Mysterium dieses Sphären-
Problems
mit träumerischer Gewalt ge-
fangen. Heute nun hat mir eine strahlende
Intelligenz — Pythagoras — über fünf-
undzwanzig Jahrhunderte hinweg, die
uns trennen, die Hand entgegengestreckt
— — — und ohne Grenzen ist meine
Freude über die Gemeinsamkeit mit einem
jener Auserwählten, die Eduard Schuré
in so würdiger Weise Die Grossen Initi-
ierten
nennt. Jeden, der meine Forschungs-
arbeit belächeln sollte, will ich fragen, ob
es nicht von ungewöhnlicher Verblendung
zeuge, das Vorhandensein eines Künstler-
Gewissens
hinter den harmonischen Phä-
nomenen, die uns umgeben, beharrlich zu
leugnen! Und fragen will ich ihn, ob
er sich nicht weit eher, gleich mir, eng
verbunden fühlen sollte mit diesen Wan-
derern des Weltenraums, deren eurythmi-
schem Gang wir in Verzückung folgen
Warum sollte man diesen kosmischen
Wandlern nicht auch eine zum Theil be-
einflussende Gewalt über die Wirbel
des menschlichen Werdens zugestehen?

* Alles Nähere ist aus den Schriften des Verfassers (Paris, Librairie de l’art indépendant)
zu ersehen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 253, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0253.html)