Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 258

Das Mysterium der Gerechtigkeit (Fortsetzung und Schluss) (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 258

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MAETERLINCK: DAS MYSTERIUM DER GERECHTIGKEIT.

der alle übrigen ersetzt. Hat sie also viel
Zeit zu verlieren? Es ist klar, dass sie
durch nichts mehr verliert, als durch eine
schon entwurzelte Illusion, denn es ist
nichts beweglicher und besser geeignet,
die Form zu wechseln.

Aber was liegt daran, wird man sagen,
ob der Mensch die und die gute That
thut, weil er überzeugt ist, dass Gott ihn
ansieht, oder weil er sich einbildet, dass
dem Weltall eine Art von Gerechtigkeit
innewohnt, oder endlich, weil ihm diese
That in seinem Gewissen als gut erscheint?
Im Gegentheil, daran liegt am allermeisten!
Man nehme drei verschiedene Menschen.
Der erste, den Gott ansieht, wird mehr
als ein Unrecht thun, weil es bisher noch
keinen Gott gegeben hat, der nicht vieles
Unrechte gewollt hätte. Der zweite wird
nicht immer so handeln, wie der dritte,
und der dritte ist der wahrhafte Mensch,
den der Moralist zu Rathe ziehen soll,
denn er allein wird die beiden anderen
überleben, und es ist für den Moralisten
wichtiger, zu verfolgen, wie der Mensch
sich im Bereiche der Wahrheit benimmt,
d. h. auf seinem natürlichen Wurzelboden,
als zu wissen, was er im Banne des Irr-
thums thut.

VI.

Ich glaube, es wird solchen, die nicht
an das Dasein eines höchsten Richters
glauben, überflüssig erscheinen, wenn ich
den unannehmbaren Gedanken der Ge-
rechtigkeit der Dinge einer ebenso ernsten
Prüfung unterziehe. Denn in der Weise
aufgefasst, wie sie in Wirklichkeit
thatsächlich ist, gewissermaßen als funda-
mental angesehen, wird sie völlig un-
annehmbar. Aber im alltäglichen Leben
pflegen wir sie uns nicht auf diese Weise
vorzustellen. Wenn wir sehen, wie das Ver-
brechen zum Unglück führt, wie schlimm
erworbener Besitz mit völligem Ruin
endigt, wie der Wüstling ins Elend geräth,
die Bosheit bestraft wird, die einen Augen-
blick triumphierende Gewaltthat zum Ver-
hängnis ausschlägt, so verwechseln wir
unaufhörlich physische Wirkung und mora-
lische Ursache, und wiewohl wir durchaus
nicht an das Dasein eines Richters glauben,
leben wir doch schließlich fast alle
— mehr oder weniger bedingungslos —

in irgendeinem unbestimmten Glauben
an die Gerechtigkeit der Dinge. Und
wenn wir auch im Zustande der kalten
Besinnung und Überlegung inne geworden
sind, dass es eine solche Gerechtigkeit
nicht gibt, so genügt doch ein Ereignis,
das uns näher angeht, zwei oder drei
Fälle, wo das Zusammentreffen besonders
auffällig ist, um diese Überzeugung in
unserem Herzen, wo nicht in unserem
Geiste, zu stürzen. Unserer Vernunft und
Erfahrung zum Trotze weckt ein Nichts
den Vorfahren in uns auf, der überzeugt
war, dass die Sterne nur darum an ihrem
ewigen Platze funkelten, um eine Wunde,
die er seinem Feinde auf dem Schlacht-
felde beibringen würde, ein Wort, das
er im Rathe der Führer sprechen würde,
eine glückliche List, die er um das Frauen-
gemach spinnen würde, vorherzusagen und
zu billigen. Auch wir vergöttern unsere
Gefühle je nach der Höhe unseres Inter-
esses, aber da die Götter keine Namen
mehr haben, vergöttern wir sie in einer
weniger deutlichen und aufrichtigen Weise;
das ist der einzige Unterschied! Wenn
die Griechen, die ohnmächtig vor Troja
liegen, einer sinnfälligen Hilfe und eines
ebenso sinnfälligen Zeichens bedürfen, so
rauben sie dem Philoktet die Waffen des
Herkules, und lassen ihn dann nackt, krank
und wehrlos auf einer öden Insel im Stiche;
und das nennt sich dann mystische Ge-
rechtigkeit, die über die menschliche er-
haben ist, und Göttergebot! Und wir?
Wenn uns eine Ungerechtigkeit nützlich
scheint, so fordern wir sie im Namen der
künftigen Geschlechter, im Namen der
Menschheit, des Vaterlandes u. s. w.
Ebenso: wenn ein großes Unglück uns
betrifft, gibt es keine Gerechtigkeit,
keine Götter mehr; wenn es aber unseren
Feind betrifft, so bevölkert sich das All
sofort wieder mit unsichtbaren Richtern;
und wenn ein unverhofftes und unverhält-
nismäßiges Glück uns zutheil wird, so
besaßen wir jedenfalls irgendwelche Ver-
dienste, die so verborgen waren, dass wir
selbst sie nicht kannten, und wir sind
glücklicher darüber, dass sie nun zum
Vorschein gekommen sind, als über das
Glück selbst, das sie uns zugeführt haben!

»Alles belohnt sich«, sagen wir. Ja,
im Grunde unseres Herzens und im Be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 258, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0258.html)